Sommereggers Klassikwelt 200: Fritz Wunderlich war der größte Gewinn und der herbste Verlust für die Gesangskunst

Sommereggers Klassikwelt 200: Fritz Wunderlich  klassik-begeistert.de, 29. August 2023

Herzlichen Glückwunsch, lieber Peter. Dies ist Deine 200. Klassikwelt.

Sommereggers Klassikwelt!

Du bist der mit Abstand produktivste Autor für klassik-begeistert.
In Deine wunderbaren Texte fließt Deine Lebensweisheit ein, die Du in 
Deiner Geburtsstadt Wien, in München und in Berlin gesammelt hast.

Berlin ist jetzt Deine neue Heimat, und wie mir eine freundliche Nachbarin erzählte, „tut der Herr Sommeregger auch noch um Mitternacht tippen und tippen und tippen in seine Tastatur“.

Lieber Peter, Deine Persönlichkeit und Deine Texte schmücken klassik-begeistert – wenn Du Deine Klassikwelt 500 geschrieben haben wirst,
fahren wir auf den Berliner Fernsehturm.

Herzlich

Andreas

Superlative werden gerne herangezogen, wenn man künstlerische Leistungen beschreibt, das ist legitim. Oft ist aber die spontane Begeisterung rein subjektiv und hält ernsthaften Vergleichen nicht stand. Jeder Musikliebhaber entwickelt aber über die Jahre seine eigenen Standards, die naturgemäß dem eigenen Erfahrungshorizont entsprechen.


von Peter Sommeregger

Ich persönlich bin durch meine Stehplatzjahre an der Wiener Oper während der 1960er Jahre geprägt, in diesem Haus konnte man zu jener Zeit wirklich alle Sänger hören, die gut und teuer waren. Jung, wie man damals war, übernahm man noch oft das Urteil älterer Platznachbarn, aber über die Zeit entwickelte man doch ein Ohr für die Feinheiten der Gesangskunst. Ich erinnere mich an eine ältere Dame, die buchstäblich jede Aufführung der Staatsoper besuchte, und das auf dem Stehplatz. In den Pausen hing man oft an ihren Lippen, ihr Urteil galt als unbestechlich.

Wenn es in dieser Zeit aber einen Sänger gab, über den nur eine Meinung existierte, so war das der Tenor Fritz Wunderlich. Die Presse, die erfahrenen Opernbesucher ebenso wie Neulinge, vergaben alle nur erdenklichen Superlative, und das zurecht. Wunderlich, ein lyrischer Tenor mit dem Potential für eine Facherweiterung, zu der es nicht mehr kommen sollte, brachte so ziemlich alles mit, was man von einem Sänger erwartet. Da war große Bühnenpräsenz, durchaus darstellerisches Talent. Aber in erster Linie war es natürlich die Stimme Wunderlichs, die seine Auftritte magisch machte. Sein unverwechselbares Timbre, leicht baritonal gefärbt, verfügte über eine ungewöhnliche Leuchtkraft. Jemand sagte einmal über ihn, er hätte gesungen „als wollte er die ganze Welt umarmen“. Eine treffende Charakteristik!

Wunderlich wurde 1930 in Kusel in der Pfalz geboren. Seine Kindheit und frühe Jugend war wohl von Armut und familiären Problemen nach dem frühen Tod des Vaters geprägt. Zusammen mit Mutter und Schwester musizierte er, zusammen traten sie auch öffentlich auf. Mit Tanzmusik verdiente sich Fritz später sein Gesangsstudium in Freiburg. Seine Lehrerin dort war Margarethe von Winterfeldt. Schon während seines Studiums war er als Eleve am Freiburger Stadttheater engagiert. Ab 1955 war er Ensemblemitglied der Stuttgarter Oper. Schon frühzeitig wurde man international auf den aufstrebenden Sänger aufmerksam, schnell standen ihm alle Türen offen.

Mit der Münchner und der Wiener Oper ging er Verträge ein, bei den Salzburger Festspielen feierte er ebenfalls Erfolge. In seinen letzten Jahren empfand Wunderlich seinen überwältigenden Erfolg zunehmend als Last, mehrfach versuchte er, seinen Fachkollegen Peter Schreier ins Spiel zu bringen, um etwas entlastet zu werden. Die Metropolitan Opera in New York lud ihn ein, im Oktober 1966 hätte er dort sein Debüt gehabt. Unmittelbar nach einem Liederabend beim Edinburgh Festival (dessen Mitschnitt sich erhalten hat), gönnte er sich eine kurze Auszeit bei einem Jagdausflug. Im Haus seines Jagdfreundes stürzte er unglücklich von einer Treppe. Der dabei zugezogenen Gehirnblutung erlag er am nächsten Tag, dem 17. September 1966 in einer Heidelberger Klinik.

Die Musikwelt erstarrte in diesen Tagen förmlich vor ungläubiger Trauer über diesen viel zu frühen Tod, Wunderlich hätte wenige Tage später erst seinen 36. Geburtstag gefeiert.

Büste Fritz Wunderlich in Kusel, Benzino-Park

Ich hatte das Glück, den Sänger insgesamt bei vierzehn Auftritten an der Wiener Staatsoper zu erleben. Unter Herbert von Karajan sang er den Don Ottavio an der Seite der dunkel glühenden Leontyne Price. In Karl Böhms legendärer Aufführung der „Daphne“ von Richard Strauss war er Leukippos neben dem Apoll von James King und Hilde Güden in der Titelrolle. Auch seinen Tamino und Belmonte konnte ich jeweils einmal hören. In Wien leistete man sich den Luxus, selbst den Sänger im „Rosenkavalier“, den Italienischen Sänger im „Capriccio“ und den Narraboth in „Salome“ mit dem Weltstar zu besetzen.

Wunderlich glänzte nicht zuletzt durch die Eleganz seiner Phrasierung, die deutliche Diktion und eine fulminante Technik. Selbst Pfitzners „Palestrina“, eigentlich einen alten Mann, sang Wunderlich überzeugend, was noch heute auf Tonträgern nachprüfbar ist. Der einzige Trost für den Verlust dieses Künstlers ist die Tatsache, dass Wunderlich vom Beginn seiner Karriere an viele Schallplatten einspielte, und dass eine kaum überschaubare Zahl von Live-Mitschnitten existiert.

Mit Hubert Giesen entstanden Lied-Aufnahmen, Wunderlichs „Schöne Müllerin“ und „Dichterliebe“ sind Legende. Auch als Konzertsänger machte er Furore, die Aufnahmen von Haydns „Schöpfung“ und Beethovens „Missa Solemnis“ sind Einspielungen für die sprichwörtliche „einsame Insel“. Mahlers „Lied von der Erde“ mit Christa Ludwig unter Otto Klemperer ist bis heute die Referenz-Aufnahme des Werkes. Die Liste ließe sich noch beliebig verlängern, jedem Musikliebhaber sei empfohlen, sich mit dem Sänger Fritz Wunderlich zu beschäftigen. Es ist lohnend, und rückt die Maßstäbe für die Beurteilung von Gesangsleistungen gerade. Seit Wunderlichs Tod vermeide ich Superlative für Tenöre. Wer sollte ihm das Wasser reichen?

Peter Sommeregger, 29. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.

Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.

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