Sommereggers Klassikwelt 294: Höre ich nur diese Weise?

Sommereggers Klassikwelt 294: Höre ich nur diese Weise?  klassik-begeistert.de, 1. Oktober 2025

Photo by Sudhith Xavier on Unsplash

von Peter Sommeregger

Jahrhunderte lang war es ein Menschheitstraum: die menschliche
Stimme aufzuzeichnen, den flüchtigen Augenblick festzuhalten. Erst der Erfindergeist am Beginn des industriellen Zeitalters ließ den Traum Wirklichkeit werden, es war letztlich Thomas Alva Edison, der den entscheidenden Durchbruch erzielte.

Edison selbst entwickelte anfangs Zylinder, später aus Schellack gegossene Scheiben, auf die der zuvor auf Matrizen aufgenommene Ton übertragen wurde. Schnell entwickelte sich daraus ein ganzer Industriezweig, die Menschen konnten endlich Musik und Gesang genießen, ohne selbst tätig werden zu müssen. Der berühmteste Tenor jener Zeit, Enrico Caruso, wurde zum Pionier der Gesangsaufnahmen, seine Popularität wurde durch die Schallplatte immens gesteigert, gleichzeitig verhalf er dem neuen Medium schnell zu einer großen Breitenwirkung. Ein eklatanter Nachteil der Schellackplatten war aber ihre stark limitierte Spieldauer, ihr erhebliches Gewicht, vor allem aber ihre Zerbrechlichkeit.

Die Erfindung der Vinyl-Langspielplatte Anfang der 1950er Jahre verbesserte die Situation deutlich. Nun entstanden in Studios aufwändige Einspielungen ganzer Opern und Symphonien, unter den führenden Labels entbrannte ein heftiger Konkurrenzkampf um prominente Sänger und Dirigenten. Kaum hatte eine Firma eine Oper eingespielt, wartete die Konkurrenz mit einer alternativen Aufnahme auf.

Zu dieser Zeit entwickelte sich meine Leidenschaft für die Oper und parallel dazu die Sammelleidenschaft für Langspielplatten. Ein Umstand, der meine Finanzen über die Jahre nachhaltig zerrüttet hat.

Etwa dreißig Jahre nach der Vinyl-Platte begann das digitale Zeitalter, das neue Speichermedium war die CD. In gewisser Weise begann damit aber auch der Niedergang der Tonträgerindustrie. CDs waren leicht zu kopieren, auf einmal hatte man statt großen Schachteln mit ausführlichen Begleitheften billige Plastikhüllen mit winzigen Booklets in der Hand. Als dann auch noch Streamingdienste große Teile der Kataloge online zugänglich machten, bedeutete dies fast schon das Ende der traditionsreichen Klassik-Labels. Der ideelle Wert der über Generationen dokumentierten künstlerischen Spitzenleistungen wurde gnadenlos „verramscht“.

Jüngere Musik- und Opernliebhaber besitzen heute zumeist keine Sammlung von Tonträgern mehr. Man muss das Sammeln auch nicht so auf die Spitze treiben, wie ich es über die Jahrzehnte getan habe, aber den größten Teil meines Wissens über Gesang, Interpreten und Werke verdanke ich der intensiven vergleichenden Beschäftigung mit Tondokumenten, die meinen Horizont weit über die live gehörten Aufführungen erweiterte.

Ein Phänomen beschäftigt mich: im Internet, speziell in YouTube-Clips kann man heute Gesangsaufnahmen aus über hundert Jahren kostenlos hören, hätte also die Möglichkeit, historische und stilistische Vergleiche anzustellen und in Bezug zu den aktuell auftretenden Künstlern zu setzen.

Das wird aber offenbar kaum praktiziert, sonst könnten wohl kaum speziell im Wagner-Fach einige bestenfalls mediokre Stimmen gefeiert werden. Die Vergleichsmöglichkeiten stünden in großer Zahl zur Verfügung, werden aber kaum genutzt. Nur das vergleichende Hören führt zu einem konkreten Urteilsvermögen, und einer realistischen Beurteilung künstlerischer Leistungen.

Auch Hören will gelernt sein!

Peter Sommeregger, 1. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint 14-tägig jeweils am Mittwoch.

Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Riccardo Muti und Anna Netrebko. Seit 26 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der deutschen Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen’. Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de.

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