So Minimal die Music so maximal trifft mich der Tanz

Stuttgarter Staatsballett, Novitzky / Dawson  Staatsoper Stuttgart, 4. Oktober 2024

© Roman Novitzky, Stuttgarter Ballett

Ich wünschte mir die milde schöne Atmosphäre Dawsons in mein Leben, doch Novitzky berührt meine aktuelle Lebenssituation viel näher, schärfer, tiefer. In mir hinterlässt multiple Emotionalität den einschneidenderen Eindruck als meine erfüllte Sehnsucht nach Harmonie.

Stuttgarter Staatsballett 

Roman Novitzky, The Place of Choice (Uraufführung am selben Ort am 28. Juni 2024)

David Dawson, SYMPHONY NO. 2 „Under the Trees’ Voices“ (Uraufführung am selben Ort am 28. Juni 2024)

Musikalische Leitung   Mikhail Agrest
Staatsorchester Stuttgart

Staatsoper Stuttgart, 4. Oktober 2024

von Frank Heublein

An diesem Abend tanzt das Stuttgarter Staatsballett zwei Uraufführungen, die Ende Mai 2024 erstmals auf der Bühne des Stuttgarter Opernhauses aufgeführt wurden: Roman Novitzkys The Place of Choice und David Dawsons SYMPHONY NO. 2 „Under the Trees’ Voices“ – in Erinnerung an John Cranko.

Beim Schlussapplaus des Abends sehe ich ein Filmbild vor mir: stürmischer Applaus brandet auf, im Film Cranko bei Onegin im Opernhaus, in dem ich sitze. Bei Dawsons SYMPHONY NO. 2 „Under the Trees’ Voices“ – in Erinnerung an John Cranko sitze ich im Zuschauerraum und der aufbrandende stürmische Beifall lässt mich nach dem Geist Crankos in der Loge suchen.

© Roman Novitzky, Stuttgarter Ballett

Im zweiten Stück des Abends nutzt Choreograph David Dawson Ezio Bossos Symphonie No. 2 als Grundlage. Der Bühnenrahmen ist ein schlichtes grau-weißes Viereck mit sich langsam vertikal verschiebenden Elementen und Lichtpaneelen. Ich höre Cranko im Film sagen „Gebt alles und bleibt euch selbst treu“. In gleichförmigen enganliegenden durchscheinend schwarzen Corsagen geben sich die Tänzerinnen und Tänzer der durch Minimal Music inspirierten konzentrisch kreisenden Musik hin. Auf der Bühne wechseln sich Formationen fließend ab. Gleiten, tragen, schweben. Fließend elegant. Wunderschön. Der Eindruck der so einnehmenden Einfachheit ergibt sich aus technischer und ästhetischer Brillanz. Mein persönliches Highlight Anfang des – wenn ich die musikalischen Sätze richtig gezählt habe – fünften Satzes ist eine Hebefigurformation. Die Tänzerin wird in der Hebung und der Veränderung derselben viermal von Tänzer zu Tänzer weitergereicht. Spektakulär!

© Roman Novitzky, Stuttgarter Ballett

So verstehe ich den Untertitel „Under the Trees’ Voices“. Der Bühnenraum ist abstrahierte Natur, die Tänzerinnen und Tänzer die rauschenden Arme der Bäume, deren tanzenden Stimmen ich entspannt ganzkörperlich aufnehme.

Für die erste Choreographie des Abends komponierte Henry Vega die Musik für Roman Novitzky im Auftrag. Auch diese atmet wie die Bossos den psychedelischen Reiz der Minimal Music. Doch ganz anders als im zweiten Teil des Abends werde ich emotional auf eine Reise geschickt. Inspiriert von Dantes Göttlicher Komödie.

© Roman Novitzky, Stuttgarter Ballett

Ich sehe Solotänzer Henrik Erikson suchend auf der Bühne: „Auf halben Weg des Menschenlebens fand / Ich mich in einen finstren Wald verschlagen, / Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.“ (Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, erster Gesang). The place of choice heißt die Choreografie. Ich deute es so, egal ob im Himmel, Purgatorium oder Hölle: wo immer wir sind, wir haben die Wahl.

Meine Reise beginnt im Himmel, ich steige hinab ins Purgatorium und zuletzt in die Hölle. Finde ich im Himmel die getanzte Harmonie, erfahre ich im Purgatorium das Unentschiedene zwischen Licht und Dunkel. Die Minimal Music kennzeichnende Wiederholung zeigt mir in der Hölle das ewige Versuchen, dem Schicksal tanzend zu entkommen.

Die Musik multipliziert den Schmerz, die Pein des fortwährenden Versuchens im dritten Höllenteil. Die letzte große Ensembleszene trifft mich mit Wucht. Bewegungen des Schmerzes. Sie rückt mir verschärft den Gegensatz zur weichen Harmonie des ersten Himmelsteils in meinen Sinn.

© Roman Novitzky, Stuttgarter Ballett

Der mittlere Purgatorio Teil ist der eindrucksvollste für mich. Lichtgewaltig, scharfe Kanten zwischen Licht und Dunkel verschwimmen in Rauchschwaden. Tänzerinnen und Tänzer erscheinen, durchschreiten die Licht-Dunkel-Grenze, scheitern an ihr, bleiben an ihr kleben.

Im letzten Bild von The Place of Choice flutet warmes goldenes Licht den Raum. Die Glut des Höllenfeuers? Das Licht der Erlösung? Meine Entscheidung. Meine Wahl.

Ich empfinde Tanz und Musik als homogene Einheit. Dafür sorgt hervorragend Mikhail Agrest am Pult des konzentriert pointiert spielenden Staatsorchesters Stuttgart in beiden Teilen.

Novitzkys Choreographie ist emotional ungleich herausfordernder als die brillant „nur“ schöne Dawsons. Umso näher fühle ich mich in der Zerrissenheit und Not der Wahl, die mir Novitzky vor Augen führt. Ich wünschte mir die milde schöne Atmosphäre Dawsons in mein Leben, doch Novitzky berührt meine aktuelle Lebenssituation viel näher, schärfer, tiefer. In mir hinterlässt multiple Emotionalität den einschneidenderen Eindruck als meine erfüllte Sehnsucht nach Harmonie.

Frank Heublein, 7. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung

The Place of Choice

Choreographie   Roman Novitzky
Musik   Henry Vega (Auftragskomposition)
Bühne und Licht   Yaron Abulafia
Kostüme   Aliki Tsakalou
Dramaturgie   Kristian Kohut

Tänzerinnen und Tänzer
Henrik Erikson *

Daiana Ruiz, Aoi Sawano *, Eva Holland-Nell *, Ruth Schultz *

Clemens Fröhlich, Ciro Ernesto Mansilla, Lassi Hirvonen *, Dorian Plasse, Edoardo Sartori

SYMPHONY NO. 2 „Under the Trees’ Voices“ – in Erinnerung an John Cranko

Choreographie   David Dawson
Musik   Ezio Bosso
Bühnenbild   Eno Henze
Kostüme   Yumiko Takeshima
Licht   Bert Dalhuysen

Assistentinnen und Assistent des Choreographen   Christiane Marchant, Rebecca Gladstone, Raphael Coumes-Marquet

Tänzerinnen und Tänzer

  1. Satz Agnes Su *, Anna Osadcenko, Mackenzie Brown, Mizuki Amemiya *, Vittoria Girelli, Veronika Verterich, Marti Piaxà, Jason Reilly, Clemens Fröhlich, Gabriel Figueredo, Fabio Adorisio *, Lassi Hirvonen *
  2. Satz Agnes Su *, Anna Osadcenko, Mackenzie Brown, Mizuki Amemiya *, Vittoria Girelli, Veronika Verterich, Aoi Sawano *, Marti Piaxà, Jason Reilly, Clemens Fröhlich, Gabriel Figueredo, Fabio Adorisio *, Lassi Hirvonen *, Satchel Tanner
  3. Satz Marti Piaxà, Vittoria Girelli, Aoi Sawano *, Fabio Adorisio *, Clemens Fröhlich, Gabriel Figueredo, Lassi Hirvonen *, Satchel Tanner
  4. Satz Agnes Su *, Anna Osadcenko, Mackenzie Brown, Jason Reilly, Clemens Fröhlich, Lassi Hirvonen *, Satchel Tanner
  5. Satz Agnes Su *, Anna Osadcenko, Mackenzie Brown, Mizuki Amemiya *, Vittoria Girelli, Veronika Verterich, Aoi Sawano *, Marti Piaxà, Jason Reilly, Clemens Fröhlich, Gabriel Figueredo, Fabio Adorisio *, Lassi Hirvonen *, Satchel Tanner

* =  Rollendebüt

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert