Foto: © Anton Zavyalov
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 16. Dezember 2019
SWR Symphonieorchester
Teodor Currentzis, Dirigent
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 9 (1908–1909)
von Jürgen Pathy
„Warum kämpfen wir mit unserem Schatten – warum hören wir nicht fröhlichere Musik“? Diese und andere Fragen stellt Teodor Currentzis in seinem aktuellen Currentzis-Lab, einer Vortragsreihe, die der gebürtige Grieche im Vorfeld seiner Konzerttourneen regelmäßig veranstaltet. Im Mittelpunkt der aktuellen Ausgabe: Gustav Mahlers neunte Symphonie, mit der Currentzis und das SWR Symphonieorchester zurzeit durch Deutschland und Österreich ziehen und im Wiener Konzerthaus abermals eine Sternstunde bescheren konnten.
1909 entstanden, aber erst 1912 uraufgeführt, steht diese Symphonie ganz im Zeichen der Ereignisse dieser Zeit. Gustav Mahler verarbeitet darin den Tod seiner Tochter Maria Anna, kurz „Putzi“ genannt. Sie war 1907 im zarten Alter von nur vier Jahren an Diphtherie verstorben. Zeitgleich überwarf sich Mahler mit dem Wiener Opernbetrieb, verlor seine Stellung als Direktor der Wiener Staatsoper – damals noch K. k. Hof-Operntheater – und erhielt die Diagnose, dass er an einer schweren Erkrankung am Herzen leide. Die Neunte ist somit, wenig überraschend, Musik der Trauer, des Rückblicks und des Abschieds. Aber ebenso der Erleuchtung, der Erlösung und des Neubeginns – zumindest bei Teodor Currentzis.
Mittlerweile schon lange kein Geheimtipp mehr, sondern der unumstrittene Superstar der Klassikszene, erschafft Currentzis ein völlig neues Klangbild. Der „Klassikrebell“, wie er gerne genannt wird, ist angetreten, um einen neuen Mahler’schen Ton zu etablieren. Keiner der großen Mahler-Dirigenten, sei es Claudio Abbado oder Leonard Bernstein, haben der „Abschiedssymphonie“ ein so klares, helles, beinahe barockes Klangbild verpasst wie der Grieche, der sich im Streicherklang jeglicher Schwermut, Düsternis und Melancholie entledigt.
Zwar hat Abbado teilweise einen ebenso leichten Streicherteppich erschaffen, aber keiner hat die Dynamiken und Tempi derart ins Extrem getrieben. Keiner hat die Tempoverzögerungen und den Stillstand derart ausgekostet, wie der im Sternzeichen Fisch auf diese Erde entsandte Teodor Currentzis – vor allem im Schlusssatz, einem transzendentalen Adagio.
Dort offenbart das „Geschenk Gottes“ – so die Bedeutung des Namens Teo – weshalb ihm zurzeit die halbe Klassikwelt zu Füßen liegt. Wenn der Grieche, dessen Bewegungen einem Tai-Chi-Meister gleichen, die Energien fließen lässt und im sechsfachen Piano den Übergang vom irdischen Leben ins himmlische Leben zelebriert, steht die Zeit still. Dann verschwimmen allmählich die Konturen zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod, zwischen Trauer und Erlösung.
Bei Currentzis, dessen tiefe Spiritualität gerade in diesem Adagio deutlich zu spüren ist, verliert der Tod jegliche Furcht und Schrecken. Im Eröffnungssatz noch in Form von dröhnenden Trompeten und klopfenden Pauken in Erscheinung getreten, im dritten Satz, einem Rondo Burleske, bereits in einer friedlicheren, wärmeren Tonfarbe unterwegs, ist der dunkle Schatten nun endgültig verstummt.
Stattdessen strahlt ein glasklares Licht, dessen Leuchtkraft von so unfassbarer Schönheit durchzogen wird, dass für einen Moment alle Sorgen, Ängste und Fragen in einer Art göttlichen Essenz aufgelöst werden. Potenziert durch einsetzende Lichteffekte, die das langsame Entschweben der Seele symbolisieren, gleicht die ganze Szenerie dem Paradies auf Erden. Wie in einem warm pulsierenden Kokon, der einen vor allen Gefahren beschützt, erlischt letztendlich nicht nur der letzte Ton, sondern auch die Saalbeleuchtung, und das Publikum verharrt für eine gefühlte Ewigkeit in Ruhe und inhaliert das Wunder der Stille.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 25. Dezember 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at