Sun, Nov 5, 2023 © Todd Rosenberg
Zum ersten Mal überhaupt gastiert das Philadelphia Orchestra in Baden-Baden. Unter Chefdirigent Yannick Nézet-Séguin gibt es von Freitag bis Sonntag gleich drei Konzerte ausschließlich mit Musik von Sergei Rachmaninow. In zweien sitzt Daniil Trifonov am Flügel. Am dritten Abend erklingen nur zwei Orchesterwerke. Doch Moment: Was heißt hier „nur“?
Sergej Rachmaninow (1873-1943) – Sinfonische Tänze op. 45; Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 44
The Philadelphia Orchestra
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
Baden-Baden, Festspielhaus, 5. November 2023
von Brian Cooper, Bonn
Es war ein Ereignis der Kategorie once in a lifetime. Ein ganzes Wochenende nur Rachmaninow, in drei Konzerten, darunter alle drei Sinfonien, und das mit dem wunderbaren – und wunderbar disponierten – Philadelphia Orchestra. Die Konzerte schienen besser besucht als jene des Yannick-Festivals La Capitale d’Été im vergangenen Juli. Das ist erfreulich, wirft jedoch angesichts der nicht zu toppenden Qualität des Orchesters und des durchaus „massenkompatiblen“ Programms Fragen auf.
Drei Tage lang wurde also unter Leitung des Chefdirigenten und Baden-Baden-Freundes Yannick Nézet-Séguin Rachmaninow zelebriert, mit üppigem, dichtem Breitwandsound aus Philadelphia. Die ersten zwei Konzerte boten sogar mit Daniil Trifonov einen Solisten aus dem allerobersten Regal. Besser geht es nicht. Was sollte man denn noch aufbieten, um das größte klassische Konzerthaus Deutschlands bis auf den letzten Platz zu füllen? Es bleibt ein Rätsel.
Im dritten und letzten Konzert spielte man das letzte und das vorletzte Opus des Komponisten, die sinfonischen Tänze und die dritte Sinfonie. Letztere wurde 1936 vom Philadelphia Orchestra unter Leopold Stokowski uraufgeführt – in Philadelphia. Stokowski war es auch, der ein bombastisches Arrangement des cis-Moll-Préludes op. 3 Nr. 2 verfasste, welches das Orchester als Schmankerl dazugab.
Zuvor erklang die dritte Sinfonie op. 44 im klassischen Philadelphia Sound. Das ist ein so dichter, schwelgerischer Klang, mit so viel Wärme dargeboten, dass man es kaum fassen kann. Von der Perfektion, mit der gespielt wird, brauchen wir nicht zu sprechen. Schon der fahle Beginn mit Klarinette und Solocello ließ aufhorchen. Vier Takte später waren wir dann mitten in der dichten Philadelphia-Klangwelt angekommen. Luscious würde man im Englischen dazu sagen.
Das ist ein Donnern und Scheppern, zwischendurch geht auch mal die Sonne auf, es ist ein Sound wie ein expressionistisches Gemälde. Die ganze Sinfonie über werden wir Zeugen einer Klangpracht, und zwar auch dann, wenn es markig wird, wie im f-Moll-Marsch des zweiten Satzes. Sobald das Glockenspiel zu hören ist, sind wir plötzlich in einer märchenhaften Feenwelt, die schon im ersten Stück, dazu gleich mehr, den Blick freigibt auf Blumenwiesen und prächtige Natur. Die Sätze 1 und 2 gehen nahtlos ineinander über. Nur vor dem dritten gibt es ein kurzes Innehalten, bevor eine regelrechte Achterbahnfahrt losbricht. Mit seinen präzisen, fordernden Gesten kitzelt Yannick alles aus dem Orchester heraus. Fugato, Bolero, ein laszives H-Dur: schöne Stellen in Hülle und Fülle.
Vor der Pause spielte das Orchester die sinfonischen Tänze op. 45, wie ich sie selten derart gut gehört habe. Satt und drängend erklingen die Akkorde im ersten Satz, bevor Oboe und Klarinette dem Saxophon ein federleichtes Bett bereiten, in das es sich – keinesfalls müde! – legen kann. Im Mittelteil des ersten Tanzes glänzen die Holzbläser, hinzu kommen die Streicher, in die ich mich allesamt verliebt habe im Laufe der drei Konzerte. Der Weg zur Reprise ist düster und dämonisch, wie es schon die Grundstimmung am ersten Abend war.
Es ist ein Teufelstanz. Ach, was sage ich: Der Teufel wird ausgelacht! Es ist ein Abgesang ähnlich wie Ravels La valse. Vergessen wir nicht, was 1940, dem Jahr, in dem Rachmaninow das Werk auf Long Island schrieb, in der Welt los war. Anfang Januar 1941 führte das Philadelphia Orchestra das Werk unter der Leitung von Eugene Ormandy zum ersten Mal auf.
Der zweite Tanz ist ein makabrer Walzer, die sordinierten Trompeten und Posaunen klingen gruselig, gruselig gut, und zum Ende spielen sie’s nochmal, Sam, ohne Dämpfer. So geht raffiniertes Komponieren.
Alle Sätze gehen bei diesem Dirigenten attacca ineinander über, die Huster haben keine Chance. Der letzte Tanz gleicht einer Totenmesse. Ich dachte an Heines Die Launen der Verliebten:
Die Glocken läuten, bim-bam, bim-bam,
„Wo bleibt mein liebster Bräutigam?“
In diesem Fall wäre die herzlose Antwort – nicht wie bei Heine – „Er ist tot, Süße, find Dich damit ab.“ Dieser Tote war kein Netter. Das Xylophon hämmert, das gesamte Schlagwerk brilliert, das Dies irae erklingt, es wird von den Bratschen aufs Köstlichste präzise rhythmisch zerlegt. Nochmals wird der Teufel ausgelacht, wir haben nämlich keine Angst. Fantastisch endet der Trubel mit dem Gongschlag, den Yannick ausschwingen lässt, wie es sich gehört, er hält die Hand oben, für uns im Publikum, fast geht es gut, Jubel und Applaus prasseln trotzdem in den nicht ganz verklungenen Gongschlag, und man kann’s den Leuten nicht einmal vorwerfen. Irre. Mitreißend.
Thank you, Philly. Danke, Baden-Baden.
Dr. Brian Cooper, 6. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at