Ungeliebte Opern 1: Carmen von George Bizet

Ungeliebte Opern 1: Carmen von George Bizet  klassik-begeistert.de , 17. September 2022

Foto: Bühnenbild zur Neuinszenierung der Oper Carmen an der Hamburgischen Staatsoper am 17.09.2022, Inszenierung und Bühnenbild: Herbert Fritsch, Kostüme José Luna (Foto: Internetauftritt Hamburgische Staatsoper)

Carmen von George Bizet

Was ist eine ungeliebte Oper? Eine, der man im Opernalltag immer wieder begegnet, ohne dass die Aufführung die Seele berührt. Diesen Rang besitzt bei mir Bizets 1875 uraufgeführte Opéra-comique Carmen: Eine sich den Männern hingebende Frau, die von einem ihrer Liebhaber erstochen wird. Nach Prosper Mérimées 1845 erschienener Novelle komponierte Bizet  ein oberflächlich glänzendes, reißerisches Stück, welches, einer Operette gleich, Gefühle vorgaukelt, sich anschmeichelnd dem Ohr nähert und allenfalls zeitweiliges Wohlgefühl vermittelt. Diese Musik versucht zu berühren, ohne Zutritt zu gewähren. Was fehlt, ist der Blick in die menschliche Seele: Es bleibt beim sich anbiedernden Ohrwurm und ggf. bestenfalls beim Schöngesang.

von Dr. Ralf Wegner

Und davon hat Bizets Oper einiges wie die Blumenarie Don Josés im zweiten (La fleur que tu m’avais jetée) oder Micaëlas Arie im dritten Akt (Je dis que rien ne m’épouvante). Und wenn schön gesungen und interpretiert wird, wie ich es bei meiner zweiten Carmen-Aufführung 1971 erlebte, kann das Haus zum Erbeben gebracht werden. Damals sang ein seit 1967 in Hamburg als Gast engagierter junger spanischer Tenor den Don José: Es war Plácido Domingo, der nicht nur schönstimmig und mit virilem Timbre Huguette Tourangeau als Carmen anbetete, sondern mittels überzeugender Darstellungskunst den Gesang veredelte und dem unglücklich Liebenden innere Kontur gab, wie ich es sonst nicht wieder erlebt habe.

Es war nicht meine erste Carmen, diese Oper hatte ich bereits 1965 gesehen mit einer engagierten Kerstin Meyer in der Titelpartie und einem etwas stocksteifen Ernst Kozub als Don José. 1982 trat Teresa Berganza als Carmen auf mit Wladimir Atlantow als Partner. Berganza sang ausgezeichnet, für eine Carmen geriet ihr Auftritt allerdings deutlich zu mütterlich. Die Sängerinnen der Carmen überzeugten sonst eigentlich immer, mal mehr mit ihrem Gesang, mal mehr mit ihrem Spiel, wie Stefania Toczyska, Alicia Nafé oder Elena Zaremba sowie zuletzt 2014 Rinat Shaham, von der ich weder vorher noch nachher viel gehört hatte.

Am bekanntesten ist wohl Carmens Auftrittsarie im ersten Akt L’amour est un oiseau rebelle. Am eindrucksvollsten geriet Maria Callas dieses Stück, und zwar bei einem dokumentierten Auftritt in der Musikhalle in Hamburg im Jahre 1962 mit einem bemerkenswerten mimischen Vorspiel:

https://www.youtube.com/watch?v=EseMHr6VEM0

Foto: Maria Callas bei einem Auftritt in der Hamburger Musikhalle im Jahre 1962

(Videostill YouTube, RW)

In der Rolle des Don José beeindruckten Michael Sylvester, Giorgio Lamberti, aber auch Arturo Chacón-Cruz (2015); Escamillo wurde an der Hamburgischen Staatsoper zwischen 1982 und 1999 überwiegend von Harald Stamm gesungen, der mit seiner Auftrittsarie „Votre toast, je peux vous le rendre“ (auch bekannt als Auf in den Kampf Torero) wie seine Bassbariton-Kollegen Tom Krause (1971) oder Franz Grundheber (1986) gegen ein oft donnerndes Orchester anzukämpfen hatten. Als Micaëla blieben mir Marina Krilovici, die unvergleichliche Helen Donath, Angela Maria Blasi und Danielle Halbwachs in Erinnerung. Am 05. Oktober werde ich mir die Oper Carmen wieder ansehen, es wird (nicht die morgige Premiere, sondern) eine der folgenden Abonnementsaufführungen sein, Grund: Um die als Violetta unvergleichliche Elbenita Kajtazi als Micaëla zu erleben.

Dr. Ralf Wegner, 17. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Georges Bizet, Carmen Wiener Staatsoper, 12. September 2022

Georges Bizet, Carmen Arena di Verona, 27. August 2022

Carmen, Ballett in zwei Akten von Johann Inger, Semperoper Dresden, 30. März 2022

5 Gedanken zu „Ungeliebte Opern 1: Carmen von George Bizet
klassik-begeistert.de , 17. September 2022“

  1. Ja, danke, bei mir ist das auch so: Carmen berührt mich vom Inhalt her überhaupt nicht (mir tut nur Don José leid, dass er auf sie hereinfällt), die Arien sind allerdings sehr schön, aber auf meiner privaten Liste (ich müsste so im Alter des Autors sein) steht Carmen auf Platz 1. Garantiert niemals mehr wieder.
    Und um mich hier unbeliebt zu machen, die weiteren Ränge: Platz 2 – Falstaff (so langweilig), Platz 3: Zauberflöte (in der zwei Selbstmordversuche vorkommen und die als eine Art von Familienoper zur Weihnachtszeit gilt. Außerdem ist Papageno für mich die größte Nervensäge im Reich der Oper).
    Ach nein, dies alles bestimmt nie mehr wieder. Gibt genügend anderes.

    Jürgen Gauert

  2. Also nichts gegen Carmen, habe sie auch schon mit Teresa Berganza in der Staatsoper HH gesehen und auf CD mit Plácido Domingo als Don José.
    Wirklich begeistert hat mich neulich die Aufführung in der Arena di Verona. Fand da stimmte alles und die Inszenierung von Zeffirelli, einfach toll und stimmig.
    Carmen ist Verführung pur in mehreren Szenen, raffiniert und typisch Weib. Das ist schon faszinierend und auch berührend.

    Susann Thies

  3. Da haben Sie aber einiges verpasst. Meine Carmen waren lange Jahre die Baltsa, Obraszowa, José Carreras, Lima, Shicoff. Ramey Escamillo unvergleichlich. Und einmal die Varady Micaela, unvergesslich.

    Stefan Ziegler

  4. Wenn mein Anspruch wäre, dass die Handlung durch und durch realistisch ist, könnte ich kein Opernfreund sein. So aber bin ich schon zufrieden, wenn ich ein Werk als musikalisch so einzigartig schön erlebe wie Carmen. Die unvergleichlichen Melodien als Steilvorlage für schöne Stimmen, die spritzigen Ensembles, die farbenreiche und transparente Instrumentierung lassen mir jedesmal die Zeit im Fluge vergehen! Trotzdem wäre ich dafür, von Bizet etwas weniger Carmen und dafür öfter mal die Perlenfischer zu spielen.

    Lorenz Kerscher

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