Foto: Bühnenbilder 1. und 2. Akt La Bohème, Hamburgische Staatsoper (© Hans Jörg Michel)
… oder Ein Nichtsnutz erträgt es nicht, dass seine Freundin im Sterben liegt
Puccinis Oper gleitet auf Messers Schneide über den See des Kitsches. Wirkliches Mitgefühl erreicht Puccinis Komposition nicht; Verdi ist ihm darin mit der Vertonung des Schicksals der ebenfalls schwindsüchtigen Violetta in seiner Oper La Traviata haushoch überlegen.
von Ralf Wegner
Im Gegensatz zu Verdi und Wagner, die in ihren Opern regelhaft alle Stimmfächer bedienten, beschränkte sich Puccini in seinen bekanntesten Opern auf eine (Butterfly), zwei (Bohème) oder drei (Tosca) Hauptpartien. Im Personenverzeichnis seiner 1896 in Turin uraufgeführte Oper La Bohème werden zwar neun namentlich bezeichnete Rollen genannt, mit Ausnahme der Tenor- und der Sopranpartie (Rodolfo, dichtender Nichtsnutz und Mimì, die Schwindsüchtige) werden alle anderen Sängerinnen und Sänger wenig oder kaum gefordert. Dafür hat Puccini seine beiden Protagonisten mit einer Fülle eingängiger Melodien bedacht, die aber jeweils nicht sehr lang sind: Rodolfos Arie Wie eiskalt ist dies Händchen (Che gelida manina) dauert etwa 4 Minuten, Mimìs Erwiderung Man nennt mich Mimì (Sì. Mi chiamano Mimì) knapp eine Minute länger und das anschließende Duett Oh liebliches Mädchen (O soave fanciulla; siehe nachfolgende Links) ebenfalls 4 Minuten.
Links: Arlene Saunders und Plácido Domingo, Hamburg 1967 (Internetfoto, Luis Eduardo Neda Landázuri)
Mitte: Luciano Pavarotti und Renata Scotto, New York 1977 (Videostill YouTube) https://www.youtube.com/watch?v=LYB5QS8LS-4
Rechts: Ileana Cotrubaș und Neil Shicoff, London 1982 (Videostill YouTube) https://www.youtube.com/watch?v=uqY1BVrhikI
Beide Partien bedürfen von der Komposition her schöner Stimmen, wie ich sie bei meiner ersten Bohème-Aufführung mit Plácido Domingo als Rodolfo und der international unterschätzten, vor 2 Jahren im Alter von 89 Jahren einer Covid 19-Infektion erlegenen Arlene Saunders als Mimì erleben durfte (1967). Später sangen Luciano Pavarotti (1974) und Neil Shicoff (1982/84), der Pavarotti stimmlich nicht das Wasser reichen konnte, sowie Francisco Araiza (1996) den Rodolfo, oft begleitet von einer routiniert guten Mirella Freni (1974/82/84). Dass Freni auch mehr als routiniert auftreten konnte, zeigte sie 1977 als Adina im Liebestrank, zusammen mit dem gottgleich singenden Luciano Pavarotti als Nemorino.
Die unvergleichliche Hellen Kwon übernahm die Partie der Mimì 2008 (mit einem sehr guten Marius Brenciu als Rodolfo) und 2009, nachdem sie noch 1995 als Musetta Miriam Gauci, die auch nicht schlecht, aber im Vergleich mit Kwon eher schwach auf der Brust, was ja zum Stück passte, sinnbildlich an die Wand gesungen hatte. Bei Kwons Musetta konnte ich mich erstmals mit der kurzen Arie der Musetta Wenn ich so gehe aus dem zweiten Akt (Quando m’en vo) anfreunden. Auch Brigitte Hahn, Alexia Voulgaridou, Angela Gheorghiu und Anita Hartig überzeugten mit der Partie der Mimì. Ileana Cotrubaș, die 1984 auch als Mimì in Hamburg besetzt war, habe ich leider nicht hören können.
Eine weitere kleine, nur ca. eineinhalb Minuten andauernde Arie genehmigte Puccini der Basspartie. Es handelt sich um die sog. Mantelarie des als Philosophen betitelten Colline (Vecchia zimarra, senti) im vierten Akt. Zwischen 1967 und 1996 wurde sie u.a. vom Hamburger Basstriumvirat Hans Sotin, Kurt Moll und Harald Stamm gesungen. Auch Alexander Tsymbalyuk machte diese kleine Arie zu einem gesanglichen Ereignis (2008/09). Bleibt noch die Partie des Marcello, der zwar für die Handlung von Bedeutung ist, gesanglich aber wenig zum Zuge kommt. Deswegen ist die Erinnerung an die jeweiligen Sänger auch eher verblasst (früher u.a. Roberto Banuelas und Andreas Schmidt, zuletzt George Petean und Lauri Vasar).
Das ganze Stück basiert auf einer losen Szenenfolge des Romanciers Henri Murger aus dem Jahre 1851. Beschrieben wird das Leben von vier Kulturschaffenden (Dichter, Maler, Musiker, Philosoph), ihrer Passion, auf Kosten anderer zu leben sowie ihren Liebschaften. Puccinis Librettisten (Giuseppe Giacosa und Luigi Illica) verdichteten die lose aneinander gereihten Episoden auf die Beziehung des Dichters Rodolfo zu der an Tuberkulose leidenden Näherin Mimì. Rodolfo lässt Mimì im Stich, da er, wie er schließlich zugibt, ihr Dahinsiechen nicht ertragen kann. Rodolfos nutznießerisches, gesellschaftlich fragwürdiges Verhalten und seine Feigheit in der persönlichen Beziehung konterkariert Puccini mit einer Fülle süßer Melodien, durchaus vergleichbar den malerisch herausragenden, inhaltlich aber fragwürdigen Armutsbildern des spanischen Malers Bartolomé Esteban Murillo, wie sie in der Alten Pinakothek zu München zu besichtigen sind.
Puccinis Oper gleitet auf Messers Schneide über den See des Kitsches. Wirkliches Mitgefühl erreicht Puccinis Komposition nicht; Verdi ist ihm darin mit der Vertonung des Schicksals der ebenfalls schwindsüchtigen Violetta in seiner Oper La Traviata haushoch überlegen.
Die aktuelle, bühnentechnisch recht aufwendige Inszenierung der Hamburgischen Staatsoper hat nach einem kurzen Zwischenspiel einer Inszenierung von Olivier Tambosi die seit 1967 über drei Jahrzehnte gespielte naturalistische Version vom Joachim Hess in der Ausstattung von Herbert Kirchhoff abgelöst. Johannes Leiacker entwickelte 2006 für Guy Joosten für den ersten und letzten Akt ein mehrgeschossiges Etagenwohnhaus mit neun Zimmern, von denen eines die Bohèmiens und eines darüber Mimì bewohnen. Praktischerweise lässt sich das Bühnenbild nach unten fahren, so dass Rodolfo, ohne Treppen zu ersteigen, wie aus einem Paternoster vor das Bühnenbild treten und bei Mimì wieder einsteigen kann. Im vierten Bild wird dasselbe, allerdings verwahrloste, offenbar weitgehend entmietet Haus gezeigt, in dem nur noch die vier jungen Männer unterkommen. Recht aufwendig ist auch das zweite Bild mit einer riesigen bunten Barlandschaft gestaltet, die im Hintergrund von einer übergroßen Weihnachtsmannfigur dominiert wird.
Insoweit lohnt sich der Besuch dieser Bohème auch optisch, zumal in der am dritten Januar 2023 beginnenden Aufführungsserie mit Elbenita Kajtazi als Mimì und Katharina Konradi als Musetta zwei herausragende junge Sopranistinnen auf der Besetzungsliste verzeichnet sind.
Dr. Ralf Wegner, 22. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ungeliebte Opern 1: Carmen von George Bizet klassik-begeistert.de , 17. September 2022
Eröffnung der Saison 2022/23 der Wiener Staatsoper Wiener Staatsoper, 5. September 2022
Giacomo Puccini,“La Bohème” English National Opera ENO im London Coliseum, 5. Februar 2022,
“Puccinis Oper gleitet auf Messers Schneide über den See des Kitsches. Wirkliches Mitgefühl erreicht Puccinis Komposition nicht; Verdi ist ihm darin mit der Vertonung des Schicksals der ebenfalls schwindsüchtigen Violetta in seiner Oper La Traviata haushoch überlegen.“
Nein Herr Dr. Wegner, seit 125 Jahren begeistert La Bohème nicht nur das ‚Volk‘ sondern sehr ernstzunehmende Intendanten, Regisseure und Dirigenten. Zu Recht. Die Oper ist ein Meisterwerk. Und das ist es eben, nirgendwo entsteht das Wort Kitsch, außer vielleicht im Auge von Betrachtern und Hörern wie Herrn Wegner.
Verdi und Puccini zu vergleichen ist völlig absurd. Beider Heimat war Ricordi, der unbestechlich nur die Besten vertrat. Er hätte keinen für den anderen hergegeben und dies tut im Grunde niemand ernsthaft von denen, die die Musik profund verstehen. Es wäre als würde man eine echte Zwiebelsuppe aus den früheren Hallen von Paris mit einer Komposition der Versuchung Île flottante aus einem bestimmten Lokal der Rue Papillon vergleichen. Geht nicht. Alles einzigartig. Was soll man vorziehen. Nichts. Man muss beides als Meisterwerk bezeichnen. Traviata und La Bohème. Sie berühren die gleichen Sinne auf ihre Weise. Zum Kitsch können beide allerdings durch kitschige Inszenierungen werden. Das ist schon vorgekommen. Die Musik ist unverrückbar bei beiden Opern meisterhaft.
Robert Forst
La Bohème ist eine meiner Lieblingsopern, ein Werk, das ich immer wieder sehr gerne erlebe.
Lorenz Kerscher
Puccinis „La Bohème“ soll eine realistische Oper sein, die jedoch in Romantik abrutscht. Leoncavallos gleichnamiges Werk ist da lebensnäher. Hier wird, zwar etwas langatmig, gezeigt, wie sich die Künstler vor Mimì gockelhaft präsentieren, eine Delogierung kommt vor und Musetta verlässt nach dem Tod Mimìs fluchtartig von der Armut angewidert die Szene.
Lothar Schweitzer