Was die Passionsspiele mit der Dreigroschenoper verbindet

 Was verbindet die Passionsspiele mit der Dreigroschenoper?  Passionsspiele, Oberammergau, 23. September 2022

Spielleiter Christian Stückl (Foto: Sebastian Schulte)

Passionsspiele, Oberammergau, 23. September 2022

Dreigroschenoper, Berliner Ensemble, 3. Oktober 2022

 von Sandra Grohmann

Gehören Sie auch zu den Menschen, die viel über die Bibel wissen, ohne sie je ganz gelesen zu haben? Dann bringen Sie immerhin schon gute Voraussetzungen mit, den Oberammergauer Passionsspielen (nächste Termine: 2030) folgen zu können.

Dieses Vergnügen hatte ich heuer. Für alle, die es wie ich noch nicht wussten: Es handelt sich um ein Kulturereignis ersten Ranges und nicht um Bauerntheater. Ich bekenne mich schuldig, das bislang nicht gewusst zu haben. Deutlicher als dieses Dorf hätte mir deshalb niemand meine Ignoranz vor Augen und Ohren führen können, aber größer als meine Beschämung war meine Freude an der Aufführung, an der Musik, der makellosen Intonation im Chor wie im Orchester (wie schaffen die das, lauter Laien? ein wahres Wunder!). Und ja, es war für mich auch ein spirituell tief berührendes Erlebnis, gerade vor dem Hintergrund des Kriegs, der Verleumdungen, der Lügen in aller Welt.

Der Aufführung kommt außerdem das Verdienst zu, eine Gabe Jesu ganz deutlich gemacht zu haben, eine besondere Gabe desjenigen, der für seine Aussprüche und Gleichnisse bekannt ist. Es ist die Gabe des Schweigenkönnens. Jesus, der mit den ungeheuerlichsten Versuchungen, Vorwürfen und Ankündigungen konfrontiert wird, sagt dazu erst einmal – nichts. Leute wie ich sitzen in Decken gewickelt unter dem Regenschutz des Oberammergauer Theaterbaus und platzen fast vor verletztem Gerechtigkeitsempfinden, und dieser Mann sagt – bibeltreu – einfach nichts. Jeder, der jemals etwas Gewichtiges sagen möchte, kann hier lernen, wie effektvoll Schweigen sein kann. Denn wenn der Meister schließlich spricht, dann ist ihm alle Aufmerksamkeit gewiss. Dann muss es die Wahrheit sein, die alle Plapperer entlarvt. Und so ist es auch.

 

Einer, der um diesen Effekt wusste, war Mackie Messer in der Dreigroschenoper. Von seinem alten Kumpel, dem Polizeichef Brown, um Vergebung für den Verrat gebeten, sagt er – nichts. Gar nichts. Der alte Kumpel beschwert sich, wie Mackie so grausam schweigen könne. Und Mackie schweigt. Bis Brown gegangen ist: Ha! – gibt er da preis – aus der Bibel gelernt!

 Es mag merkwürdig anmuten, wie in dem großen, opulenten Oratorium, das in Bayern aufgeführt wird, ebenso wie in der frech operettenhaften Bettleroper, die ich kürzlich im Berliner Ensemble besucht habe, eben nicht die Töne, nicht der Swing, nicht die Reden im Mittelpunkt stehen. Sondern das, wofür man gemeinhin die Theater nicht besucht. Das, was nach landläufiger Auffassung schnellstens gebrochen werden sollte, um den Fake News entgegenzuwirken. Das, was uns umso unerträglicher erscheint, je länger es dauert. Selbst kleine Gesprächspausen möchten wenigstens vom auf dem Smartphone gelesenen Wort gefüllt werden.

 Jesus, der Heiland, und Mackie, der Mörder, aber schweigen, wenn es darauf ankommt. Für heute werde ich das auch tun. Obwohl die Passion mir das Herz noch überfließen lässt. Und obwohl mir das entgegengesetzte „nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ seit Tagen nicht aus dem Kopf geht.

 Was verbindet die Passionsspiele mit der Dreigroschenoper?

 Die Momente des Schweigens. Probieren Sie es doch auch einmal.

Sandra Grohmann, 23. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

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