Die West Side Gangs wirbeln in Wien über die Bühne der Volksoper

Leonard Bernstein, West Side Story  Wiener Volksoper, Premiere am 27. Jänner 2024

Die Volksoper hat mit dieser „West Side Story“ eine rundum geglückte Produktion auf die Bühne gebracht, musikalisch wie tänzerisch hörens- und sehenswert. Das Premierenpublikum dankte allen Mitwirkenden mit jubelndem Applaus. Es gibt noch knapp zwanzig Vorstellungen bis Ende März. Hingehen und genießen!

Ensemble West Side Story  © Marco Sommer/Volksoper Wien

„Somewhere, we’ll find a new way of living, we’ll find a way of forgiving, somewhere…“

„West Side Story“
Musik von Leonard Bernstein

Buch von Arthur Laurents
Gesangstexte von Stephen Sondheim
Deutsche Übersetzung der Dialoge von Marcel Prawy

Musikalische Leitung: Ben Glassberg
Regie: Lotte de Beer
Choreographie: Bryan Arias
Bühnenbild: Christof Hetzer
Kostüme: Jorine van Beek
Licht: Alex Brok

Sounddesign: Martin Lukesch

Orchester der Volksoper Wien

Wiener Volksoper, Premiere am 27. Jänner 2024

von Dr. Rudi Frühwirth

Nach langer, allzu langer Zeit hat die Volksoper Leonard Bernsteins „West Side Story“ wieder in ihren Spielplan aufgenommen, in einer neuen und absolut sehens- und hörenswerten Produktion. Im Jahr 1968 war hier die deutsche Erstaufführung zu bewundern, dank dem unermüdlichen Einsatz des damaligen Chefdramaturgen Marcel Prawy. Weitere Inszenierungen folgten 1982 und 2001. Und nun wirbeln endlich wieder die Jets und die Sharks über die Bühne.

Und wie sie wirbeln! Dialoge und Gesangstexte, Musik und Choreographie vereinen sich zu einem mitreißenden und berührenden Bühnenerlebnis, wie es kaum ein anderes Musical zu bieten hat. Wohl liebe ich „My Fair Lady“ und „Bandwagon“, aber ich würde keinen Augenblick zögern, „West Side Story“ als das beste Werk des Genres überhaupt zu bezeichnen, unübertroffen seit der Uraufführung vor fast sechzig Jahren.

Die Musik überzeugt heute wie damals mit ihrer Frische, ihrem Erfindungsreichtum und ihrer Eindringlichkeit. Zusätzlichen Reiz gewinnt Bernsteins Partitur durch die unterschiedliche Charakterisierung der beiden Gangs – die Jets singen und tanzen zu Jazzrhythmen, die Sharks zu lateinamerikanischen. Dirigent Ben Glassberg setzte das mit dem Orchester der Volksoper hinreißend um; in vielen Szenen war es mir und sicher auch vielen anderen unmöglich, ruhig sitzenzubleiben.

Die brillanten, zwischen Ernst, Hoffnung und Zynismus schwankenden Gesangstexte wurden glücklicherweise in der Originalsprache belassen. Die Dialoge werden dem Publikum zuliebe in der Übersetzung von Marcel Prawy gesprochen. Dass nicht alle Darsteller perfekt Deutsch sprechen, macht sie sogar realistischer, da ja beide Gangs vorwiegend aus Immigranten der ersten oder zweiten Generation bestehen – polnisch, irisch, italienisch die Jets, puerto-ricanisch die Sharks.

Ensemble West Side Story © Marco Sommer / Volksoper Wien

Die Gesangsrollen sind ganz stimmig mit jungen und jugendlich wirkenden Sängerinnen und Sängern besetzt. Jaye Simmons ist eine stimmlich und darstellerisch überzeugende Maria. Ihre Freundin Anita ist Myrthes Monteiro, nicht nur eine gute Sängerin mit einer schlagkräftigen Altstimme, sondern auch eine erstaunliche Tänzerin.

Jaye Simmons (Maria) © Marco Sommer / Volksoper Wien

Anton Zetterholm bietet als Tony stimmlich eine große Leistung. Mit seinem charakteristisches Timbre vermeidet er klug die Gefahr, die Zuhörer an einen Opern- oder gar Operettensänger zu erinnern. Riff, Action, Diesel und die übrigen Mitglieder der Jets sind tadellos besetzt, wie auch Bernardo, der Anführer der Sharks, und sein Freund Chino.

Anton Zetterholm (Tony) © Marco Sommer / Volksoper Wien

Regie und Choreographie kann man in der „West Side Story“ nur schwer getrennt betrachten, da Schauspiel und Tanz nahtlos ineinander übergehen müssen.

Der Choreograph Bryan Arias hat angepasst an Bernsteins Musik zwei verschiedene Bewegungsrepertoires herausgearbeitet; eckig, fahrig, aggressiv für die Jets, fließend und elegant für die Sharks. Ensemble wie Solistinnen und Solisten setzen seine Vorgaben mit bewundernswertem Einsatz und höchster Präzision um.

Die Hausherrin Lotte de Beer hat selbst Regie geführt. Die turbulenten Szenen – unter anderen die Zusammenstöße der beiden Gangs, „America“, der zum Doppelmord ausufernde Zweikampf, „Officer Krupke“ und die Fast-Vergewaltigung der Anita – sind vermutlich in Zusammenarbeit mit dem Choregraphen entstanden; die intimen Szenen sind der Regisseurin berührend gelungen.

Für die lange Ballettsequenz im zweiten Akt hat sich Lotte de Beer etwas Besonderes ausgedacht. Marias und Tonys Traum eines „Somewhere“, wo sie Frieden und Ruhe finden wollen, wird hier zu einem Haus, das den „American Dream“ verkörpert, das gleiche Haus, das am Anfang und am Ende auf einer Wandreklame zu sehen ist.

Jaye Simmons (Maria), Anton Zetterholm (Tony) © Marco Sommer / Volksoper Wien

Dieses „Somewhere“ ist den beiden, wie auch allen anderen Jets und Sharks, auf Grund der gesellschaftlichen Verhältnisse unerreichbar. Die scheinbare Vorstadtidylle mit Garten und Flagge, die zunächst den ersehnten Zufluchtsort vorgaukelt, endet wieder mit Mord und Totschlag, und der Traum eines Zusammenlebens in Frieden und Eintracht zerbricht jäh an der gnadenlosen Realität. Auch am Ende des Stücks lässt uns die Regisseurin wenig Hoffnung auf Versöhnung – Tonys lebloser Körper wird von den Jets fortgeschleppt, Maria steht ausgestoßen und verlassen von allen einsam auf der Bühne.

Ensemble © Marco Sommer / Volksoper Wien

Das Bühnenbild von Christof Hetzer besteht im Wesentlichen aus einer riesigen undurchdinglichen Stahlwand auf der Drehbühne, die den Zwist der beiden Gangs und die Spaltung der Gesellschaft im Allgemeinen bedrückend vor Augen führt. Sie verschwindet nur in den Szenen, wo Maria und Tony einander nahe sind. Die Kostüme schließlich machen wie die Musik und die Choreographie den verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergrund der beiden Gangs augenfällig. Jorine van Beek hat für die Mädchen der Jets modische Tops, Shorts und Hosen entworfen, während die Mädchen der Sharks wallende Röcke oder Kleider tragen.

Die Volksoper hat mit dieser „West Side Story“ eine rundum geglückte Produktion auf die Bühne gebracht, musikalisch wie tänzerisch hörens- und sehenswert. Das Premierenpublikum dankte allen Mitwirkenden mit jubelndem Applaus. Es gibt noch knapp zwanzig Vorstellungen bis Ende März. Hingehen und genießen!

Dr. Rudi Frühwirth, 27. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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