Foto © Warner Music Germany / Ricardo Davila
Wiener Philharmoniker
Daniel Barenboim, Dirigent
Wiener Konzerthaus, 14. Mai 2017
Bedřich Smetana
Vysehrad. Symphonische Dichtung T 110 (Má vlast «Mein Vaterland», 1872-1874)
Z ceských luhu a háju «Aus Böhmens Hain und Flur». Symphonische Dichtung T 114 (Má vlast «Mein Vaterland», 1875)
Vltava «Die Moldau». Symphonische Dichtung T 111 (Má vlast «Mein Vaterland», 1874)
Pierre Boulez
Notations I für Orchester (1978/1984)
Notations III für Orchester (1978/1984)
Notations IV für Orchester (1978/1984)
Notations VII für Orchester (1997/2004)
Notations II für Orchester (1978/1984)
Das 38. Internationale Musikfest der Wiener Konzerthausgesellschaft ist ein musikalischer Höhepunkt der Saison. Zu erleben sind Dirigenten wie Daniel Barenboim, Christian Thielemann, Daniel Harding, Franz Welser-Möst und Paavo Järvi, die ein ambitioniertes Programm zur Aufführung bringen. Ebenso treten Solisten von Weltrang auf wie Anja Harteros, Joshua Bell, Frank Peter Zimmermann, Maxim Vengerov, Jordi Savall und Cameron Carpenter.
Den Fokus des diesjährigen Musikfests bildet das Werk des vor einem Jahr verstorbenen französischen Komponisten Pierre Boulez. Das Wiener Konzerthaus würdigt sein Ehrenmitglied in der Saison 2016/17 mit einer umfassenden Präsentation seiner Werke. Im Rahmen des Musikfests sind in insgesamt 14 Konzerten eine Vielzahl seiner wegweisenden Kompositionen zu hören – interpretiert von prominenten musikalischen Wegbegleitern.
Den Auftakt machten beim Eröffnungskonzert am Sonntag die Wiener Philharmoniker mit den «Notations» unter Daniel Barenboim. Der Dirigent hatte als enger Freund von Boulez dessen Orchesterversion der «Notations I-IV» 1980 zur Uraufführung gebracht.
In der gerade neu eröffneten Berliner Philharmonie begegneten sie sich 1964 zum ersten Mal: Boulez dirigierte die Berliner Philharmoniker, Barenboim war der Solist in Béla Bartóks 1. Klavierkonzert. Im März 2017 wurde in Berlin ein von Barenboim initiierter neuer Kammermusiksaal eröffnet. Sein Name: Pierre Boulez Saal.
Seit der ersten Begegnung bis zum Tod des französischen Komponisten, Dirigenten, einflussreichen Lehrers und streitbaren Kulturpolitikers am 5. Januar 2016 verband die beiden eine künstlerisch äußert fruchtbare Freundschaft. Eine Einladung kurz nach der ersten Berliner Begegnung nahm Barenboim – fasziniert von dem Dirigenten – gerne an und ließ sich von Boulez in die Welt der Zweiten Wiener Schule einführen. Aber auch für Boulez’ eigene Werke begann er sich zu interessieren. Als es Barenboim Anfang der 1970er Jahre schließlich gelang, Boulez zum Komponieren für großes Orchester zu ermuntern, war dies der Beginn eines nicht abgeschlossenen «work in progress», in dem Boulez Teile seiner 1945 für Klavier geschriebenen «Douze Notations» nicht nur auf ein riesig besetztes Orchester übertrug, sondern in der für sein Komponieren äußerst typischen Weise weiterdachte, erweiterte und verdichtete. 1980 brachte Barenboim die «Notations I–IV» mit dem Orchestre de Paris zur Uraufführung, erst 1999 folgte die Nr. VII als letztes vollendetes Stück der Reihe mit dem Chicago Symphony Orchestra.
Wenn nun Daniel Barenboim zur Eröffnung des 38. Internationalen Musikfests Boulez’ «Notations» zur Aufführung bringt, lebt diese Freundschaft weiter und noch viel mehr: Die 17 Minuten Boulez waren ein hochkarätiges Konzertereignis, das das Wiener Konzerthaus in faszinierende Orchesterfarben tauchte. Pierre Boulez’ Musik verrät in ihrem Reichtum an Schattierungen ihre Inspiration durch die Klangfarbenwunder der französischen Impressionisten.
Ein Meister der Instrumentation war auch der Böhme Bedřich Smetana. Eine Auswahl aus seinen unter dem Titel «Mein Vaterland» vereinten Symphonischen Dichtungen – darunter die berühmte musikalische Nachzeichnung des Laufs der Moldau – stellte Barenboim den «Notations» im ersten Teil gegenüber.
Die Smetana-Interpretation am Sonntag war hinreißend und leidenschaftlich. Die Wiener Philharmoniker spielten immer harmonisch, sehr kraftvoll in den forte-Passagen und sehr einfühlsam bei den leisen Stellen.
Daniel Barenboim musste bei Smetana nur vereinzelt präzise Anweisungen geben. Ansonsten hatte er ja die besten Pferde im Stall und konnte sie galoppieren lassen. Vom ersten bis zum letzen Ton war zu hören: Hier spielt ein absolutes Weltklasseorchester. Vor allem im zweiten Teil („Aus Böhmens Hain und Flur“) spielten die Streicher fast überirdisch brillant miteinander. „Die Musik hat mich total mitgenommen“, bilanzierte die Wienerin Regina Teuscher.
Auch der spanische Klassik-Radiomoderator Miguel Álvarez-Fernandéz war hochzufrieden: „Der besondere Klang der Wiener Philharmoniker ist einzigartig. Er ist so wunderbar und passt hervorragend in das großartige Wiener Konzerthaus. Man musste unbedingt herkommen, und dieses Konzert live erleben. Das Orchester hat Smetana wirklich verinnerlicht – man sah es auch den Gesichtern der Musiker an. Die Beziehung zwischen Barenboim und dem Orchester ist sehr stark. Schade, dass der erste Flötist nach der ‚Moldau’ nicht aufgestanden ist – er war galaktisch gut.“ Álvarez-Fernandéz moderiert die Sendung „Ars Sonora“ auf dem staatlichen Sender Radio Clásica.
Nach 17 Minuten Boulez – bei dieser Musik scheiden sich die Geister, zwei Besucher verließen vorzeitig den Großen Saal – war es Barenboim persönlich, der „Bravo!“ rief. Zwei Minuten klatschte das Publikum, dann bat der Maestro um Ruhe: „Wenn sie weiter applaudieren, spielen wir das letzte Stück noch mal!“ Das tat das höfliche Publikum, vor allem aus Respekt vor der großen Herausforderung für das Orchester und den Dirigenten. Und so gab es die Notations VII zwei Mal.
Die Ausstellung mit Fotografien der in Österreich geborenen, in Paris lebenden Fotografin Marion Kalter, die Pierre Boulez dreißig Jahre lang mit der Kamera bei seiner Arbeit begleitete, ist bis 23. Juni 2017 für Besucher der Konzerte zugänglich. Die Arbeiten hängen in den Buffets und Foyers des Wiener Konzerthauses.
klassik-begeistert.at, 15. Mai 2017