Foto: Dr. Klaus Billand (c)
Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus,25. August 2018
Wiener Philharmoniker
Igor Levit,Klavier
Franz Welser-Möst,Dirigent
Hans Werner Henze
Tristan. Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester
Richard Wagner
„Morgendämmerung”, „Siegfrieds Rheinfahrt”, „Siegfrieds Tod und Trauermusik” sowie Schlussszene aus „Götterdämmerung“
von Jürgen Pathy
Das Gigantentreffen bei den Salzburger Festspielen hält den im Vorfeld hohen Erwartungen locker stand. Die Mittagsmatinee im Großen Festspielhaus in Salzburg wird zum fulminanten Erfolg aller Protagonisten: die Wiener Philharmoniker, Igor Levit und der profilierte Dirigent Franz Welser–Möst entlocken den enthusiastischen Festspielgästen stehende Ovationen.
Zu Beginn führt Welser-Möst in einer kurzen bilingualen Ansprache das Publikum durch das Werk des Komponisten Hans Werner Henze (1926–2012). Die Tristan Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester schrieb der deutsche Komponist im Schatten seiner Trauer um die während der Komposition verstorbenen, befreundeten Schriftsteller W.H. Auden und Ingeborg Bachmann.
In Anbetracht der Umstände verwundert es nicht, dass die Abgründe, die sich in dieser Musik offenbaren, düster und irrsinnig erscheinen. Levit, Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker stoßen mit ihrer Interpretation dicke Stahltore auf, legen unerforschte Wege zu einer ambivalenten Gefühlswelt frei. Eiskalte, das Blut gefrierende Schauer wechseln sich ab mit rührseligen Gänsehautmomenten, ent- und verführen die Sinne in bisher ungeahnte emotionale Tiefen.
Trotz der schrägen, dissonanten Klangwelt der am 20. Oktober 1974 in London uraufgeführten Tristan Préludes kehrt absolut keine Unruhe ins Festspielhaus ein –das disziplinierte Publikum wirkt erstarrt, wie das Kaninchen vor der Schlange. Kein Husten, keine raschelnden Bonbon-Verpackungen, kein Kleingeld-Geklimper. Der in dieser modernen Musik innewohnende Wahnsinn entfacht eine unerwartete Sogwirkung. Tonbandeinspielungen eines von einer Kinderstimme rezitierten Textes und monotone Herzschlaggeräusche potenzieren die psychedelisch anmutende Irrenhauswelt, deren Kern jedoch durchzogen wird von geordneten Strukturen und intellektuellen Herausforderungen.
Das ideale Spielfeld des deutsch-russischen Pianisten Igor Levit, 31, der vor keinen Herausforderungen zurückschreckt. Es ist kaum vorstellbar, dass seine renommierten Pianisten-Kollegen Grigorij Sokolov, Maurizio Pollini, András Schiff oder Evgeny Kissin derartige Experimente wagen würden. Die den Préludes zugrunde liegende, nicht streng gehandhabte Zwölftonreihe erfordert einen forschenden Freigeist, der gewillt ist, sich und das Publikum durch dieses komplizierte Klangspektrum zu manövrieren: das Klangspektrum eines Komponisten, dessen Schönheitsideal einen Perspektivenwechsel erfordert, denn für Henze war nur schön „was von der Norm abweicht“. Igor Levit durchleuchtet das Werk von allen Seiten, verleiht dieser Musik einen Sinn!
Zu seiner Entstehungszeit haben Richard Wagners radikale Operndramen die Musikwelt genauso polarisiert wie Hans Werner Henzes Kompositionen die Lager noch heute spalten dürften. Mittelweg gab und gibt es keinen. Hass oder Liebe. Unverständnis oder Fanatismus.
Diese Samstagsmatinee hätte die Wogen jedoch selbst bei den Klassik-Aficionados zum Überquellen gebracht, deren musikalischer Horizont die Ouvertüren Richard Wagners nicht zu überschreiten vermag. Reine Orchesterauszüge der „Götterdämmerung“, sozusagen die musikalischen Highlights des „Ring“-Finales, in Perfektion zelebriert von einer eingeschworenen Truppe: dem ehemaligen Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper, Franz Welser-Möst, 58, und dem berühmtesten Orchester der Welt, den Wiener Philharmonikern.
An allen Ecken und Enden entspringen dem Wagnerianer bestens bekannte Leitmotive. In der heranbrechenden Morgendämmerung malen die Celli eine geruhsame, ausdrucksvolle Melodie, die weich klingenden Wiener Hörner entwickeln das Heldenmotiv des Siegfried und die Klarinette eines der Brünnhilde. Vor dem geistigen Auge erscheint während Siegfrieds Rheinfahrt der auf dem Ross Grane zu neuen Abenteuern aufbrechende Siegfried, bevor der kühne Held durch Hagens Lanze getötet wird.
Im folgenden aus dem Todesmotiv entwickelten Trauermarsch verweben Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker weitere Motive zu einem atemberaubenden Klangteppich: das Motiv des „Rheingold“, in wehmütiger Erinnerung an Siegfrieds Eltern das Wehwalt-Motiv („Nun weißt du, fragende Frau“), das Wälsungenleid-Motiv und Sieglindes zartes Liebesmotiv aus der „Walküre“. Alles kulminiert nach einem großen Crescendo in einer Forte-Fortissimo-Eruption, die Welser-Möst nicht dermaßen brachial explodieren lässt wie Ádám Fischer, sondern sensibler, farbenreicher wie ein buntes Sylvesterfeuerwerk über dem Publikum versprüht – darunter auch der Festspielintendant Markus Hinterhäuser, 60, und der talentierte Jungdirigent Lorenzo Viotti, 28.
Ein Gänsehautmoment jagt den anderen, ehe die Musiker diese künstlerische Sternstunde der Salzburger Festspiele in einem strahlenden Des-Dur der Schlussszene der „Götterdämmerung“ hoffnungsvoll ausklingen lassen. Einem Hochzeitspaar vor den Toren des Großen Festspielhaus wird dieser positive Wind hoffentlich ein gutes Omen sein…
Dieses Konzert legt ein weiteres Mal Zeugnis ab von der ungeheuren Qualität der Wiener Philharmoniker – wenn sie von den richtigen Händen geführt werden, thront das selbstbewusste Ensemble sattelfest an der Spitze des Olymps. Das blinde Vertrauen in den Musikdirektor des Cleveland Orchestra, die künstlerische Harmonie, manifestiert auch die Aussage des Orchestervorstands Daniel Froschauer, der Franz Welser-Möst als einen „von uns“ tituliert.
Nach diesem orchestralen Ohrgasmus könnte man wunschlos glücklich mit den Worten Richard Wagners „Ja – im Brande Walhalls möchte ich untergehen“ aus dieser Welt scheiden.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 26. August 2018, für
klassik-begeistert.at
Eine Aufnahme kann zwar nie einen persönlichen Besuch vor Ort ersetzen, aber Ö1 sendet am 31. August 2018, ab 19.30 Uhr, eine Aufzeichnung.
Jürgen Pathy