Andris Nelsons legt aus wunderschönen Puzzleteilchen ein verzerrtes Bild

Wiener Philharmoniker, Midori, Nelsons  Wiener Konzerthaus, 18. Oktober 2024 

Midori © Nigel Parry  2022

Nach einem guten und interessanten Beginn mit dem Violinkonzert von Prokofjew fällt der Dirigent Nelsons wieder in sein altes Fahrwasser – leider schaffte er es nicht, der fünften Symphonie von Mahler seinen interpretatorischen Stempel aufzudrücken.

Sergej Prokofjew
Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 in D-Dur op. 19

Gustav Mahler
Symphonie Nr. 5 in cis-moll

Wiener Philharmoniker

Solistin: Midori, Violine
Dirigent: Andris Nelsons

Wiener Konzerthaus, 18. Oktober 2024

von Herbert Hiess

Das Violinkonzert von Prokofjew war sowohl von der unglaublichen Geigerin Midori als auch von den Philharmonikern unter Nelsons ein großer Wurf. Der Maestro konnte das Orchester mitreißen und würzte orchestral dieses großartige Violinkonzert mit einer besonderen Note. Und mit der Geigerin Midori hatte der Dirigent eine der besten Geigerinnen zur Verfügung.

Midori war ein Wunderkind; 1971 geboren, trat sie 1985 in der Wiener Staatsoper anlässlich eines Konzerts auf, wo unter anderem Leonard Bernstein dirigierte. Schon damals war sie mit einem Violinkonzert von Mozart sowohl technisch als auch musikalisch sehr eindrucksvoll. Jetzt hat sie im Konzerthaus am Freitag in Wien wiederum brilliert; da kam zwischenzeitlich  auch eine besondere persönliche Reife dazu.

Ihr silbriger Ton ist mehr als faszinierend. Obwohl sie stets mit gesenktem Haupt spielt, hatte sie mehr Kontakt zu Publikum und Orchester als viele andere Solisten. Vielleicht hätte man sich in dem manchmal skurrilen Werk mehr Aggressivität gewünscht; da hätte Maestro Nelsons ruhig fordernder sein können.

Dafür verzauberte sie mit der Zugabe aus der Violinsonate von Johann Sebastian Bach, aus der sie das Largo extrem berührend spielte.

Nach der Pause kam Gustav Mahlers fünfte Symphonie zum Erklingen. Ein Werk, das mit der ersten wahrscheinlich am häufigsten in Konzerten gespielt wird. Dafür gibt es natürlich (vor allem in Wien) unerreichbare Vorbilder, an der Andris Nelsons automatisch gemessen werden kann und wird.

Wiener Philharmoniker, Andris Nelsons Dirigent © Marco Borrelli

Auch wenn das Orchester noch so perfekt spielte, schaffte es der Dirigent nicht, die Musiker mitzureißen. Es ist anzunehmen, dass das Werk perfekt geprobt wurde. Bei vielen einzelnen Passagen merkte man auch, welche Intentionen dahinter steckten. Leider wurde diese Symphonie bei der Aufführung eine Art „Stückwerk“, wie ein Puzzlebild aus lauter wunderschönen und edlen Teilchen, das als Gesamtbild dann doch nicht mehr so berauschend war.

Und man hatte den Eindruck, das Orchester spiele mit einer Art beamtenhafter Routine. Schade, denn die Einzelleistungen waren, wie so oft, sehr beeindruckend – angefangen von dem berühmten Trompetensolo über die Hornpassagen bis hin zu den klezmerartigen Klarinettenklängen.

Und beim berühmten „Adagietto“ versuchte Nelsons vergeblich, mit extrem breitem Tempo an Vorbilder wie Leonard Bernstein oder Lorin Maazel heranzureichen. So fehlte in diesem Konzert dem „Adagietto“ die Intensität, die Seele. Schade darum!

Man hätte  sich an diesem Abend doch mehr erwartet – konnte man jedoch die großartige japanische Geigerin Midori wieder erleben. Das allein rechtfertigte den Besuch!

Herbert Hiess, 19. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert