Foto: (c) Andreas Balon
Musikverein Wien, Großer Saal, 22. Mai 2018
Wiener Symphoniker
Leonidas Kavakos: Dirigent und Violine
- Johann Sebastian Bach, Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo d-Moll; Rekonstruktion nach dem Cembalokonzert BWV 1052
- Anton Bruckner, Symphonie Nr. 4 Es-Dur, Romantische, Fassung 1878-1880
von Thomas Genser
Zum wiederholten Male trifft Leonidas Kavakos im Wiener Musikverein auf die Wiener Symphoniker. Am Samstag saß er bei Igor Levit noch als Gast im Publikum (klassik-begeistert.de berichtete), an diesem Abend steht er selbst auf der Bühne. Vor fast vollem Haus spannt der Geiger und Dirigent den Bogen vom Barock in die Spätromantik: Er stellt zwei Werke, die unterschiedlicher nicht sein könnten, einander gegenüber und gibt dabei eine großartige Leistung ab, auch wenn das ältere Werk vom neueren überschattet wird.
Grundsätzlich ist Bachs d-Moll-Konzert, BWV 1052 ein Cembalokonzert, die Forschung geht mittlerweile aber von einer Version mit Solovioline als Urform aus. Diese bringen Kavakos und ein spärlich besetztes Orchester als ebenbürtige Partner zum Klingen. Obwohl der gebürtige Athener über die Begleitung im Eröffnungssatz geradezu drüberwirbelt, merkt man, dass sich hier alle auf Augenhöhe begegnen. Cembalo und Ensemble tönen weich, haben aber die nötige Kraft und Dynamik. Auf einen Stopp folgt die knappe Solokadenz, die mehr einem Instrumentalrezitativ ähnelt und wie Butter gleitet.
Unisono schreiten die Streicher im zweiten Satz choralartig voran, Kavakos folgt dem schmerzenden g-Moll bedächtig. Seine Triller, Vibrati und anderen Ornamente sind geschmackvoll, nie übertrieben, was ansonsten ja schnell einmal passiert. Der Tutti-Gruppe lässt er stets den Vortritt, nur selten stellt sich der Grieche ins musikalische Rampenlicht. Eine Haltung, die für Musiker und Zuhörer eine wohltuende Abwechslung vom Zurschaustellen anderer Virtuosen ist.
Ganz ohne Virtuosität geht es dann aber doch nicht: Im Finale zieht Kavakos alle Register seines Könnens und erzeugt dabei mit seiner Stradivari alleine den Eindruck eines ganzen Ensembles. Doppelgriffe, Bariolagen und rasante Läufe führen durch das Allegro. Der Satz vereint alle Elemente barocker Musik: Kurze Sequenzen von motivischem Material, die typische Terrassendynamik und Wanderungen durch den Quintenzirkel, die Orchester und Solist gemeinsam bestreiten. Für die hervorragende Leistung gibt es großen Applaus und zum Dank eine kurze solistische Zugabe.
Alles andere als solistisch treten die Wiener Symphoniker nach der Pause auf: Eine wahre Hundertschaft von Streichern und Bläsern erschafft gemeinsam Bruckners Romantische. Vor zehn Jahren sagte Kavakos, dass er “zur gegebenen Zeit” gerne einmal Bruckner dirigieren würde – eine Dekade später scheint die Zeit reif dafür zu sein. Das Werk öffnet mit schlichten Hornrufen über einem Streicherteppich, den das Orchester im Satzverlauf ordentlich ausklopft, vor allem durch die Blechbläser, die das gesamte Geschehen beinahe übertönen.
Die Natur als zentraler Topos der Romantik wird hör- und spürbar: Mal ist es der Gesang der Kohlmeise, mal sind es die Jagdhörner, die tief aus dem Wald ertönen. Auch wenn die Symphonie stellenweise langatmig ist, verleiht Kavakos ihr die notwendige Gestalt, besonders den Streichern – klar: Schließlich ist er selbst Geiger. Den Trauermarsch im zweiten Satz lenkt er ganz einfach um und macht daraus einen Triumphzug. Unter seinem Dirigat sind selbst die härtesten Dissonanzen himmlisch anzuhören.
Im Scherzo werden die Orchesterfarben noch reicher. Bruckners großes Vorbild Richard Wagner steht klang- und gefühlsmäßig nahe, nicht nur wegen des Tristan-Zitats am Satzanfang. Und wieder geht es raus in die Natur: Jagdfanfaren schmettern, Vögel pfeifen, ein einzelner Kontrabass ruft in den Wald. Die sehr unterschiedlichen Themenblöcke, für die Bruckner einige Kritik einstecken musste, setzt der Herr am Pult nach Art eines großen Puzzles zusammen. Seine Körpersprache ist konstant, stets behutsam und nie autoritär. Man merkt, dass er eigentlich Instrumentalist ist, ihm die Rolle des Dirigenten aber große Freude bereitet.
Ebenso abwechslungsreich wie epochal ist das Finale und spätestens hier wird es jedem klar: Bruckners Musik sprengt alle Grenzen! Zu Beginn ist Ungewissheit zu spüren und das Gefühl, dass sich etwas Großes anbahnt. Wie ein Donner brechen dann Tuba und Posaunen herein, gleichzeitig fordert Kavakos von den Streichern immer mehr – diese geben ihm, was er verlangt. Die Musik ist auf ihre Art überfordernd, gleichzeitig alles und nichts: Mal Schlachtengemälde, dann Tondichtung oder musikalische Darstellung eines ganzen Lebens mit allen seinen Höhen und Tiefen. Was am Ende bleibt, ist bloße Verblüffung und minutenlanger Applaus.
Thomas Genser, 23. Mai 2018, für
klassik-begeistert.de