Foto: © GTG / Carole Parodi
„Mir persönlich ist der gute, alte, anachronistisch-barocke, von mir aus xenophob-sexistische Mozart dann doch hundert Mal lieber als der Murks einer politisch korrekten, zeitgenössischen Interpretation, in der die Moral der Geschichte dennoch fehlt.“
Grand Théatre de Genève, 24. Januar 2020
Die Entführung aus dem Serail. Singspiel von Wolfgang Amadeus Mozart.
von Charles E. Ritterband
Der Zufall wollte es, dass ich zwei Tage zuvor im Wiener Burgtheater der geräuschvollen Massakrierung von Goethes Faust – mit effektvollen pyrotechnischen Effekten, dröhnender Disco-Musik und großflächigen Eingriffen eines zeitgenössischen Textdichters ins Original – beigewohnt hatte. Der „Déjà-Vu-Effekt“ war also unvermeidlich, als ich kurz darauf im prachtvollen Genfer Grand Théatre die kreative Entrümpelung von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ anschauen durfte. Im Burgtheater gab es allerdings eine Pause, die manche Zuschauer, wie auch ich selbst, zur Flucht ins nahegelegene Café Landtmann nutzten.
Diese Genfer „Entführung“ bot, da keine Pause, keine Gelegenheit zur Flucht – manche hatten vorsichtshalber gar keine Tickets gebucht und so blieben viele Plätze leer, was bei einer der beliebtesten Mozart-Opern in einer Schweizer Metropole doch eher erstaunlich ist. Es war wohl ein untrügerisches Zeichen dafür, dass ich eine, sagen wir, kühne Neuinterpretation des Mozart’schen Werkes zu gewärtigen hatte – dessen Uraufführung 1782 (welch netter Zufall) in eben jenem Theater stattgefunden hatte, das ich doch zwei Tage zuvor in der Pause fluchtartig verließ, um mir den geliebten „Faust“ nicht noch mehr vermiesen zu lassen.
Nun, die Diagnose der Genfer Theatermacher (namentlich des Regisseurs Luk Perceval): Mozarts Singspiel aus dem 18. Jahrhundert geht so nicht mehr, im 21. Es muss entstaubt, entrümpelt, aktualisiert und umgebaut – also dekonstruiert – werden. Eine kühne Idee. Mozart an den Kragen zu gehen ist nicht weniger gewagt als Goethe zu verbessern. Könnte schiefgehen. Doch: Kunst, so der Regisseur im Originalton, „pas de l’amusement“, die Kunst sei also nicht dazu da, den Betrachter zu amüsieren. Kunst sei dazu da, Fragen zu stellen. Und diese beantwortete Perceval mit einer Reihe von Tricks: Die hübsche Handlung der „Entführung“, die ja ist wie ein barockes Puppenspiel, wurde – gestrichen. Der Bassa Selim, die Sprechrolle dieses Singspiels, der ja genau wie sein Bruder Sarastro in der „Zauberflöte“ die freimaurerischen Kernbotschaften der Toleranz, der Aufklärung und des Verzichts auf Rache auszusprechen und zu verkörpern hätte (also die eigentliche ernsthafte Quintessenz dieses barock-verspielten Stücks) – wurde gestrichen. Also: Keine Handlung, keine Quintessenz.
Mozarts heiter-nachdenkliches Singspiel muss musikalisch (Janitscharen-Musik) und inhaltlich (Schauplatz türkischer Harem) vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse gesehen werden, die damals die Stadt Wien erschütterten und tödlich bedrohten – die Türkenbelagerung und Abwehrschlacht von 1683, also ein Jahrhundert vor der Uraufführung.
Heute noch ist der „Türkenschanzpark“ der größte und beliebteste Park von Wien und der Türkenbelagerung hat Wien bekanntlich seine berühmten Kaffeehäuser und, so will es die Legende, das dem türkischen Halbmond nachempfundene „Kipferl“ (Croissant) zu verdanken. Die „Türkenmode“, die jenen Schrecknissen folgte und diese sublimierten, lag auch Mozarts „Janitscharenmusik“ – und dem Singspiel „Entführung“ zugrunde. Doch dieser historische Bezug wurde in dieser Inszenierung hermetisch beseitigt.
Geblieben ist in dieser Inszenierung immerhin die wunderschöne Musik Mozarts, die herrlichen Arien und Duette.
Doch Perceval wäre nicht Perceval, hätte er diese, in Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Fabio Biondi nicht noch ergänzt und zwar mit einem Lied aus Mozarts Ballett „Ascanio in Alba“ als stimmungsvolles Finale. In dieser gewagten Konzeption wurde jedem Sänger, jeder Sängerin ein Schauspieler, eine Schauspielerin beigesellt, die Texte zu sprechen hatten. Diese Texte hatten die Original-Texte des Singspiels vollständig zu ersetzen – und leider wurden sie bisweilen auch (in der Ouvertüre beispielsweise) über die Musik gesprochen: Störend zumindest, wenn nicht gar eine Respektlosigkeit dem lieben Mozart gegenüber.
Das Original des Singspiels ist aus der Sicht des Regisseurs und des Dirigenten heute nicht mehr aufführbar. Es ist, in den Worten von , Fabio Biondi, „heute grundlegend anachronistisch“. Und, wäre in diesem Geiste der politischen Korrektheit zu ergänzen, zutiefst xenophob und rassistisch. Die Frage stellt sich allerdings sogleich: Wäre für kluge, gebildete und aufmerksame Zuschauer nicht gerade ein historisches „anachronistisches“ Stück ein wunderbar poetisches Gleichnis, aus dem man mit etwas Intelligenz mühelos seine Schlüsse für die heutige Zeit ziehen könnte?
Aber nein, dem Zuschauer muss heutzutage alles dick aufgetragen und um die Ohren geschmiert werden, denn er ist ja, meinen die Regisseure, schwer von Begriff.
Sie geben sich dann auch die allergrößte Mühe, klare Dinge unklar, einfache kompliziert zu machen in ihren Inszenierungen – damit auch ja keiner begreife, was hier gemeint ist. Auch diese Inszenierung ist in hohem Maße interpretations- und erklärungsbedürftig. So wird beispielsweise die Frage aufgeworfen, wieso Chor bzw. Statisterie (in moderner Straßenkleidung selbstverständlich) pausenlos um ein sich pausenlos um die eigene Achse drehendes rudimentäres Bühnenbild (eine Art großer Holzkäfig) im Kreis rennen müssen. Aha. Der Regisseur hat die Antwort parat – weil seine Inszenierung von einem grundlegenden Gegensatz beherrscht werde: Jenen, den „Lebendigen“, den Aktiven, die sich ständig beeilten und in die Stadt eilen und stets zu spät ankommen – und jenen, die den Tod erwarten und die Anderen beobachten, voll Sehnsucht, Neid und Defätismus. Was das mit dem Stück zu tun habe: „Sehnsucht“ sei der Kern dieses Stücks, erklärt Perceval, die Sehnsucht nach dem Tod oder die Angst vor dem Tod.
Und wenn wir uns fragen, weshalb der böse Osmin ununterbrochen einen alten Mann im Rollstuhl über die Bühne schiebt, der Obszönitäten von sich gibt, dem Publikum obszöne Gesten macht und auch mal vom Rollstuhl springt, seine Hose herunterlässt und dem vornehm-calvinistischen Genfer Publikum sein nacktes Hinterteil vorführt, so erhalten wir im Programmheft eine einigermaßen plausible Erklärung: Im Schaffen des namhaften (und äußerst vielseitigen) belgischen Regisseurs Luk Perceval taucht regelmäßig der Rollstuhl auf der Bühne auf. Dies hat offenbar biographische Gründe: Im Alter von 36 Jahren stand er vor der Alternative zu sterben oder den Rest des Lebens im Rollstuhl zu verbringen – dies zumindest geht aus dem Programmheft hervor.
Das geht doch alles ziemlich weit – wie aber lautet die Antwort dieser Inszenierung auf den angeblichen Anachronismus, Rassismus, die Xenophobie? So: Die türkische Menschenrechtsaktivistin und Romanschriftstellerin Asli Erdogan (sie heißt wirklich so), die jahrelang im türkischen Frauengefängnis Bakirköy unter dem Vorwurf der „terroristischen Propaganda“ eingekerkert war, da sie angeblich die kurdische Sache unterstützte. Die Texte in denen es zumeist um die unterdrückte Kindheit einer jungen türkischen Frau geht, klingen doch etwas bemüht, belehrend – und etwas larmoyant, so gut sie auch formuliert sein mögen.
Erdogans epische Texte werden von den Schauspielern gelesen. Sie haben die Handlung des Singspiels zu ersetzen. Es mögen gute, aufrüttelnde Texte sein. Doch zwischen den Mozart-Arien stören sie ganz einfach. Und, wenn mich nicht alles täuscht: Die Sache stieß beim – zu den Arien höflich applaudierenden – Genfer Publikum doch ziemlich weitgehend auf Unverständnis. Jedenfalls war dies den unverhohlenen Kommentaren des Publikums beim Verlassen des Saales und den vereinzelten, aber deutlich vernehmbaren Buh-Rufen zu entnehmen.
Dennoch: Die musikalischen Leistungen waren ungeachtet der störenden Zwischentexte sehr beachtlich. Das Orchestre de la Suisse Romande – das Beste der Schweiz, wie ich als Schweizer durchaus sagen darf – intonierte diesen Mozart mit Subtilität, Präsenz und, wo nötig, Temperament. Das Glockenspiel in der Ouvertüre war für mein Empfinden etwas allzu dominant, dann aber waren Gesang und Orchesterbegleitung perfekt austariert. Der aus Sizilien stammende Dirigent Fabio Biondi nahm ebenfalls Eingriffe vor: Er war bemüht, die harten, martialischen Rhythmen durch einen kammermusikalischen Klang zu ersetzen, er platzierte ein Klavier im Orchester und stellte das Orchester um – er setzte die Bläser vor die Streichinstrumente.
Vor allem die beiden Sopranistinnen, Olga Pudova als Konstanze und Claire de Sévigné als Blonde boten hervorragende musikalische Leistungen. Pudova, die russische Koloratur-Spezialistin, sang die aufsteigenden Passagen mit müheloser, präziser Leichtigkeit und die Franco-Kanadierin Claire de Sévigné interpretierte ihre Arien humorvoll und glockenhell. Der Belmonte des französischen Tenors Julien Behr erschien mir anfänglich eher gepresst, „befreite“ sich jedoch im Zuge der Aufführung, besonders im sehr harmonisch vorgetragenen Duett mit seiner Konstanze. Ausgezeichnet und sonor der Bass des Argentiniers Nahuel Di Pierro. Solide wohlklingend und mit gebührender Leichtigkeit der Pedrillo des Denzil Delaere.
Alles in allem – ein zwar sehr originelles, durchaus denkwürdiges aber doch zwiespältiges Erlebnis im Genfer Opernhaus. Mir persönlich ist der gute, alte, anachronistisch-barocke, von mir aus xenophob-sexistische Mozart dann doch hundert Mal lieber als der Murks einer politisch korrekten, zeitgenössischen Interpretation, in der die Moral der Geschichte dennoch fehlt – die aufklärerische Botschaft des Bassa Selim. Schade drum.
Charles E. Ritterband, 28. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Regie: Luk Perceval
Dirigent: Fabio Biondi
Bühne: Philipp Bussmann
Konstanze: Olga Pudova
Blonde: Claire de Sévigné
Belmonte: Julien Behr
Pedrillo: Denzil Delaere
Osmin: Nahuel Di Pierro
Orchestre de la Suisse Romande
Choeur de Grand Théatre de Genève
Danke für diese kritische Einschätzung! Um ehrlich zu sein, hätte es mich gewundert, wenn diese Produktion etwas getaugt hätte. Ich bin auch heilfroh, dass ich nicht drin war. Muss ja wirklich miserabel gewesen sein. Dass Sie das so ehrlich und ohne Beschönigungen schreiben, ehrt Sie! Chapeau!
Kirsten Liese
Mit dieser Oper bin ich als Kind mit klassischer Musik erstmals in Berührung gekommen. Was ich jetzt von diesem Meisterwerk in der Genfer Version auf ARTE zu sehen bekam, vertreibt ganz bestimmt sämtliche Kinder und auch alle anderen, die den Musikgenuss und das Opernerlebnis einer gekünstelt-intellektuellen Moralbotschaft vorziehen. Dabei sei nichts gegen zeitgemässe Inszenierungen gesagt, aber hier stellt sich der Regiesseur über Mozart. Damit muss man scheitern, das Publikum verdient sowas nicht.
Michael Tamas