Oper und Krieg oder: die Provinz hat zugeschlagen Verdi statt Tschaikowski – Russen dürfen jetzt nicht sein

17. St.Galler Festspiele, Giuseppe Verdi, „Giovanna d’Arco“  24. Juni 2022 PREMIERE

Foto: Ania Jeruc, Mikheil Sheshaberidze, Chöre, Statisterie / Bild: Xiomara Bender

Sind die St.Galler noch bei Trost? Wie kommen sie dazu, Tschaikowski, den zweifellos bedeutendsten russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, für die Untaten des russischen Autokraten Putin zu bestrafen?

17. St. Galler Festspiele, 24. Juni 2022 PREMIERE

Giovanna d’Arco
Oper von Giuseppe Verdi


von Dr. Charles E. Ritterband

Die idyllische nordostschweizerische Kleinstadt St.Gallen – für viele Jahre meine Heimat – hat einiges zu bieten: Die weltberühmte Kathedrale und die barocke Stiftsbibliothek (Unesco Weltkulturerbe), die illustre Universität (meine Alma Mater), Textil- und Spitzentradition von Weltruf und ein hervorragendes Stadttheater, an dem unter anderem Verdis „Attila“ erstmals nördlich der Alpen aufgeführt wurde. Wenig mehr als eine halbe Autostunde von Bregenz entfernt mit seinen großen Opern auf der Bodenseebühne leistet sich St.Gallen bereits zum 17. Mal jeweils im Juni seine eigenen Opern-Freilichtfestspiele vor der grandiosen Fassade der Kathedrale.

Doch diesen Sommer war etwas anders: Geplant gewesen wäre eigentlich die Aufführung der eher selten inszenierten Tschaikowski-Oper „Die Jungfrau von Orléans“ aus dem Jahr 1879. Doch zwei Monate vor der Premiere haben die St.Galler die russische durch die italienische Oper „Giovanna d’Arco“ von Verdi ersetzt, welche sich demselben Thema widmet: dem Befreiungskampf der Franzosen gegen die Engländer im Hundertjährigen Krieg gegen die englische Besetzungsmacht unter Führung der 17jährigen, jungfräulichen Ioanna, „Jeanne d’Arc“.

Begründung: „Der russische Einmarsch in die Ukraine und das anhaltende Kriegsgeschehen haben Konzert und Theater St.Gallen gezwungen, das Programm der 17. St.Galler Festspiele auf dem Klosterhof zu überdenken.“ Denn wenn auch das Thema dieses Werkes durch und durch französisch sei, sei es derzeit nicht zu verantworten, mitten in der Stadt im Freien russische Musik, der kriegerische Handlungen zugrunde liege, zu interpretieren. Denn die Aufführung eines Festivals im öffentlichen Raum stelle im Vergleich zu einer Aufführung im geschlossenen Rahmen eines Theaters „zusätzliche Ansprüche“ und verlange nach einer „speziellen Art von Rücksichtnahme gegenüber der Öffentlichkeit“. Dies habe den Veranstaltern der St.Galler Festspiele keine andere Wahl gelassen, als entsprechend umzudisponieren.

Das sind zweifellos sehr edle Beweggründe. Und man hat Empfindlichkeiten und entsprechend kritischen Medienkommentaren elegant vorgegriffen, in St. Gallen. Und hat zudem noch unverschämt Glück gehabt – zumal ja statt einer Oper vom bösen Russen der identische Stoff eines guten und genauso prominenten Italieners zur Verfügung stand. So weit, so gut. Doch: sind die St.Galler noch bei Trost? Wie kommen sie dazu, Tschaikowski, den zweifellos bedeutendsten russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, für die Untaten des russischen Autokraten Putin zu bestrafen?

Mit dieser Zensurmaßnahme unternimmt St.Gallen in der urdemokratischen Schweiz genau das, was man Putin und seinen Spießgesellen vorwirft: Hier wird die Freiheit der Kunst untergraben – und die Unterdrückung der Freiheit, die systematische Auslöschung jeder demokratischen Regung ist ja just genau das, was der russische Diktator tut. Es ist etwas völlig anderes, wenn man russische Hofkünstler, die sich öffentlich vor Putin verbeugen, wie Netrebko und Gergiev, boykottiert und über sie Auftrittsverbote verhängt? Uns aber ungefragt Tschaikowski vorenthalten? Das erinnert doch penetrant an die Aufführungsverbote des NS-Staates für die Werke jüdischer Komponisten.

Und außerdem haben sich die St.Galler mit dem Objekt dieser verunglückten Übung in den eigenen Fuß geschossen: Jeanne d’Arc hat ja bekanntlich heroisch gegen Invasoren, Unterdrücker und Besetzer gekämpft. Man hätte in dieser Inszenierung lediglich, mit wenig Phantasie und ein paar preisgünstigen Requisiten wie etwa Flaggen, Engländer durch Russen und Franzosen durch Ukrainer ersetzen müssen – et voilà: Da hätte man sogar die Tschaikovski-Oper als Gleichnis für den Kampf der Ukrainer präsentieren und sich vielleicht sogar ein  paar anerkennende Kommentare bei der Kritik holen können. So aber gedieh das Ganze lediglich zur provinziellen Farce einer verfehlten „political correctness“, die statt Anerkennung eigentlich nur kopfschüttelnde Häme verdient.

Dr. Charles E. Ritterband, 26. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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