Marko Letonja, Generalmusikdirektor, Bremer Philharmoniker, Tabakquartier, Bremen, 2024-09-17 © Caspar Sessler
2. Philharmonisches Konzert „Radikaler Optimismus“
Ludwig van Beethoven Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 36
Andrea Lorenzo Scartazzini „Earth“ für Orchester
Johannes Brahms Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73
Marko Letonja Dirigent
Die Bremer Philharmoniker
Bremer Konzerthaus Die Glocke, Großer Saal, 3. November 2025
von Dr. Gerd Klingeberg
Das Konzertmotto dürfte ganz bewusst ausgewählt worden sein: „Radikaler Optimismus“. Einfach so. Ohne Ausrufe- oder Fragezeichen. Dauergrinsen, bis die Gesichtsmuskulatur völlig verspannt ist? Ein heftiger kumpelhafter Hallo-Schlag in die Magenkuhle, der zusammenzucken lässt? „Verstehen Sie Spaß?“ bis an die Schmerzgrenze, bei dem sich die Verursacher vor hämischem Lachen ausschütten wollen? Oder, musikalisch gesehen, ein Beethoven, der den Zuhörern mit Donnergetöse als turbulentes Spektakulum mit Applausgarantie um die Ohren gewatscht wird?
Derlei bloße Effekthaschereien sind glücklicherweise nicht das Ding eines Marko Letonja. Er setzt vorrangig auf Werktreue und subtile Ausführung. Nicht, dass er bei seiner Interpretation auf klare Kontraste oder prägnante Akzente verzichten würde; im Gegenteil, es geht durchaus gehörig zur Sache. Aber das organische Fließen des musikalischen Geschehens steht im Vordergrund. Dadurch entwickelt sich eine permanente Spannung, wie bei einem Fluss, der in einer wechselvollen Landschaft manche Stromschnellen und Einengungen überwindet, mal unruhig plätschert oder in ganzer Breite ruhig dahinfließt.
Bilder, die beim Zuhören wie von selbst entstehen. Bei Beethovens Sinfonie Nr. 2 gelingt dies besonders im 2. Satz Larghetto, bei dem Streicher und Holzbläser mit der Feinheit und Fülle ihrer jeweiligen Klangfarben wetteifern. Wenn es dann im Finalsatz ordentlich schwungvoll hergeht, erahnt man in der einen oder anderen zurückgenommenen Phase dennoch die existenziellen Ängste des an seiner zunehmenden Ertaubung schier verzweifelnden Komponisten.
Brahms’sche Romantik, Heiterkeit und Melancholie
Ähnlich ernsthaft geht Letonja bei der Sinfonie Nr. 2 von Brahms zu Werke. Bei seiner detailliert durchdachten Präsentation kann er sich auf die musikantischen Qualitäten seines Orchester in puncto intonatorischer und rhythmischer Präzision sowie sorgsam ausgeführter Dynamik unbedingt verlassen. Da kommen die intimen Klänge ebenso wie die eruptiven Fortissimos gleichermaßen ausdrucksvoll zur Geltung. Und auch wenn bei Brahms ein grundlegend optimistischer Duktus vorherrschen mag, erschließt sich, mehr noch als bei Beethoven, die Ambivalenz des Konzertmottos. Sind etwa die kraftvoll strahlenden Tutti Ausdruck überschäumender Lebensfreude – oder deuten sie einen eher dramatischen Hintergrund an?
Die Antwort dürfte letztlich im Auge des Betrachters, besser: im Ohr des Zuhörers zu finden sein. „Radikaler Optimismus“, ja, allerdings mit einem in Klammern gesetzten Fragezeichen. Mit einem Optimismus, der quasi unter der Oberfläche verschwindet, aber in den Wurzeln verbleibt: eben „radikal“ ist im lateinischen Wortsinn (Radix = Wurzel).
Auch bei Brahms ist dies wieder besonders im Satz 2 Adagio non troppo zu spüren. Zum Wegträumen schön ist er, romantisch, beschaulich, von hoher emotionaler Dichte, wie ein zufriedenes, dennoch eher verhaltenes Lächeln. Dazu gelegentlich melancholisch eingefärbt. Heiter und gelöst gerät der Folgesatz, ein Allegretto grazioso, flirrend wie das Sonnenlicht auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche des Wörthersees, dort, wo sich Brahms dereinst während seiner Sommerfrische für seine Zweite inspirieren ließ.
Und schließlich der gut vorbereitete, straffe Kehraus, den „Ungarischen Tänzen“ ähnlich, voller Bewegungsdrang bis hin zum fulminanten Finale.
Musikalischer Blick in Vergangenheit und Zukunft
Eingerahmt von diesen beiden beeindruckenden Monumenten der Klassik erlebt das Auditorium einen ganz besonderen Clou: die Uraufführung von „Earth“, einer Komposition des 1971 in Basel geborenen Andrea Lorenzo Scartazzini. Dirigent Letonja betont vorab, dass die bereits seit 200 Jahren bestehenden Bremer Philharmoniker stets offen waren (und sind!) für die Aufführung „Neuer Musik“.
So wurden beispielsweise auch die damals „neuen“ zeitgenössischen Werke, wie die Sinfonien von Beethoven und Brahms, hier schon sehr bald aufgeführt – und sind heute längst weltweit etabliert. Ob dies mit „Earth“ auch gelingt? Möglich wäre es durchaus.

Wie Letonjas zudem erläutert, greift Scartazzini mit seinem Werk einige Milliarden Jahre zurück, indem er mit hauchzarten sphärischen, flageolett-ähnlichen Klängen ein subtiles Bild der Entstehung der Erde erstellt. Die Töne kumulieren, werden lauter, ungebärdiger: Irgendwann beginnt die Menschheit, den Planeten zu beherrschen, auszubeuten, sich gegenseitig heftig zu bekriegen. Das drückt sich aus in knarzend scheppernden Blechbläsern, heftig wummernden Clustern, aufgeregten Streicher-Fortissimos: Ein martialisches Getümmel, ein Tohuwabohu, das von donnernden Paukenschlägen vorangetrieben wird. Was diesen faszinierend plastischen Klangbildern folgt, wirkt indes wie Resignation, Ermattung, Tod. Auflösung – oder Erlösung?
Viele Fragezeichen verbleiben bei dieser musikalischen Zukunftsvision im Raum: Gibt es für die heutige Menschheit einen Neuanfang, eine Zukunft? Wenn ja: welche? Die Musik pulsiert in ruhigem Metrum, dazwischen melodiöse Passagen, ein kurzes, heftiges Aufblitzen. Hochspannung, die tief unter die Haut geht. Dann ein da capo, zurück zu Eingangsklängen, die sich ganz allmählich im Nichts, in der unendlichen Stille verlieren, als hielte die Welt Momente lang den Atem an.
Totale Stille, die auch im Publikum noch für eine geraume Weile andauert. Bis endlich der erlösende langanhaltende Beifall losbricht, mit dem die begeisterten Zuhörer die durchweg überzeugende dirigentische und orchestrale Leistung wie auch den anwesenden „Earth“-Komponisten angemessen zu würdigen wissen.
Dr. Gerd Klingeberg, 4. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musikfest Bremen: „Auf Wiedersehen“ Bremer Konzerthaus Die Glocke, 5. September 2025
Alena Baeva, Nicholas Collon und das Aurora Orchestra Bremer Konzerthaus Die Glocke, 30. August 2025