CD-Rezension:
Man darf dieser kompakten, eleganten Box getrost prophezeien, dass sie zur neuen Referenzeinspielung der Tondichtungen von Richard Strauss werden wird. Und sie macht Appetit auf Opernaufnahmen unter der Leitung Nelsons.
STRAUSS
Gewandhausorchester Leipzig
Boston Symphony Orchestra
Yuja Wang
Yo-Yo Ma
Andris Nelsons
Deutsche Grammophon 486 2040
von Peter Sommeregger
Der lettische Dirigent Andris Nelsons zählt seit längerer Zeit zu den Stars der internationalen Dirigentenszene. Seit ein paar Jahren leitet er zwei der bedeutendsten Orchester der alten und der neuen Welt. Unter seiner Leitung haben das Leipziger Gewandhausorchester und das Boston Symphony Orchestra eine Kooperation begonnen, die in der Geschichte dieser Orchester, aber auch darüber hinaus einzigartig ist. Zwar hatten die beiden Orchester vor gut hundert Jahren schon einmal den gleichen Chefdirigenten, nämlich Arthur Nikisch. Ein so intensiver Austausch zwischen den beiden Klangkörpern war aber damals schon organisatorisch nicht möglich.
Nelsons ehrgeiziges Projekt, den wesentlichen Teil der Strauss’schen Tondichtungen einzuspielen, hat historische Vorbilder in der Schallplattengeschichte. Clemens Krauss, Freund und Weggefährte von Strauss, realisierte seine Einspielungen in den 1950er Jahren mit den Wiener Philharmonikern für die DECCA, Fritz Reiner spielte wenig später mit dem Chicago Symphony Orchestra ebenfalls mehrere Strauss-Tondichtungen für die Schallplatte ein. Das bisher umfangreichste Projekt dieser Art realisierte Rudolf Kempe in den 1970er Jahren für den EMI-Konzern, inzwischen sind diese als Referenz-Aufnahmen geltenden Einspielungen von Warner in den Katalog übernommen.
Nelsons tritt also in große Fußstapfen. Beide, der von ihm heute geleiteten Orchester, haben eine historische Strauss-Tradition. Richard Strauss dirigierte zwar nur einmal, 1904 in Boston, aber seine Werke sind dort bis heute fester Bestandteil des Konzertrepertoires, was für das Leipziger Orchester noch deutlicher gilt. Im Wechselspiel entstanden die Aufnahmen zwischen 2017 und 2021.
Was sofort positiv auffällt, ist der erfreulich differenzierte Zugriff Nelsons auf die teilweise schon fast zu Tode gespielten Stücke. Im schwelgerischen „Don Juan“ (Leipzig) nimmt er extrem unterschiedliche Tempi, was dem oft zu rasant gespielten Werk gut bekommt. Für den „Don Quichotte“ (Boston) steht ihm mit Yo-Yo Ma ein Virtuose für die Soli des Cellos zur Verfügung. Auch hier legt er das Stück breit, lyrisch an, entwickelt einen flirrend transparenten Klang.
Für die „Burleske“ (Leipzig) wählte er Yuja Wang als Solistin am Klavier, die mit ihrer gewohnt halsbrecherischen Technik dem Werk ihren Stempel aufdrückt. Der Tanz der Salome (Leipzig) gelingt ihm mit lasziver Langsamkeit und Dichte. Ebenfalls mit den Leipzigern zelebriert er die „Metamorphosen“ mit einer sehr klaren Linie, welche die polyphone Struktur dieses Werkes freilegt.
Schwelgerisch üppig, dabei transparent bis in die feinsten Details die Alpensymphonie (Boston), das vielleicht ausladendste Stück der Tondichtungen. Nelsons spinnt den musikalischen Faden genüsslich aus, seine teilweise sehr breiten Tempi geben dem Orchester viele Gelegenheiten, seine Brillanz zu demonstrieren.
Das „Festliche Präludium für Orgel und Orchester“ führen die beiden Orchester gemeinsam auf, mit Olivier Latry an der Orgel. Diese Aufnahme entstand in der Bostoner Symphony Hall.
Auch die im Konzertrepertoire eher stiefmütterlich behandelten Tondichtungen wie Macbeth, Aus Italien und die Symphonia Domestica erleben exemplarische Aufführungen.
Einen Unterschied zwischen den beiden Orchestern zu benennen fällt nicht leicht, schließlich spielen beide in der gleichen, der ersten Liga. Und Andris Nelsons hat beiden Klangkörpern in den letzten Jahren bereits seinen deutlichen Stempel aufgedrückt. Was besticht, ist sein unkonventioneller Zugang zu den meisten der Tondichtungen, den Vergleich mit den historischen Strauss-Editionen muss er nicht fürchten. Nelsons der für das Gelb-Label aktuell auch alle Beethoven-Symphonien mit den Wiener Philharmonikern eingespielt hat, mit dem Bostoner Orchester einen Schostakowitsch-Zyklus erarbeitet und mit den Leipzigern kurz vor der Vollendung eines Bruckner-Zyklus steht, scheint der Mann für das Enzyklopädische zu sein, die Gaben dafür bringt er in reichem Maße mit.
Man darf dieser kompakten, eleganten Box getrost prophezeien, dass sie zur neuen Referenzeinspielung der Tondichtungen von Richard Strauss werden wird. Und sie macht Appetit auf Opernaufnahmen unter der Leitung Nelsons.
Peter Sommeregger, 24. April 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
musicAeterna, Teodor Currentzis Elbphilharmonie, 14. April 2022
Richard Strauss, Salome Teatro alla Scala, Milano, Live-Stream vom 20. Februar 2021
Daniels Anti-Klassiker 40: Richard Strauss – Sinfonia domestica (1904) klassik-begeistert.de