Kirill Petrenko holt die „Lost Generation“ aus dem Vergessen

Kirill Petrenko, Berliner Philharmoniker, Lise Davidsen, Christian Gerhaher  Philharmonie Berlin, 9. Juni 2022

Das Publikum in der Philharmonie, die bedauerlich viele leere Plätze aufwies, zeigte sich höchst angetan von diesem ungewöhnlichen, aber sehr ansprechenden Programm. Erneut erweist sich Kirill Petrenko als Glücksfall für das Orchester und sein Publikum, indem er den Kanon der aufgeführten Werke permanent erweitert.

Foto: Lise Davidsen (c) Ray Burmiston

Philharmonie Berlin, 9. Juni 2022

Erwin Schulhoff
Symphonie Nr.2

Leone Sinigaglia
Romanze füe Violine und Orchester op.29
Rapsodia piemontese für Violine und Orchester op.26

Alexander Zemlinsky
Lyrische Symphonie op.18

Noah Bendix-Balgley Violine
Lise Davidsen Sopran
Christian Gerhaher Bariton

Kirill Petrenko  Dirigent
Berliner Philharmoniker

von Peter Sommeregger

Dieses Konzert stand ganz im Zeichen von Komponisten, die durch den Nationalsozialismus, Kriegswirren und sonstige Katastrophen des
20. Jahrhunderts um ihre Karriere, ihre Anerkennung und auch teilweise um ihr Leben gebracht wurden. Dieser „Lost Generation“ ist die laufende Saison der Berliner Philharmoniker gewidmet.

Abermals konnte sich das Publikum über Entdeckungen und selten Gehörtes freuen. So ist die zweite Symphonie Erwin Schulhoffs, der 1942 in Haft der Nationalsozialisten starb, ein keckes, mit verschiedenen Stilen spielendes Stück, das im dritten Satz stark an Jazzmusik erinnert. Bei den Berliner Philharmonikern war es bisher noch nie zu hören.

Das gilt auch für die Romanze für Violine und Orchester von Leone Sinigaglia, einem Italiener der wegen seiner jüdischen Abstammung 1944 deportiert werden sollte, aber unmittelbar davor einem Herzinfarkt erlag. Lediglich seine ebenfalls aufgeführte Rapsodia piemontese war 1907 einmal von den Berlinern aufgeführt worden.

Die beiden Stücke können ihr Herkunftsland nicht verleugnen, Sinigaglia spielt mit folkloristischen Zitaten und verbindet diese zu reizvollen Schaustücken für den Solisten. Als solcher konnte der charismatische erste Konzertmeister der Philharmoniker, Noah Bendix-Balgley erneut seine hervorragenden solistischen Qualitäten beweisen.

Das Hauptwerk des Abends war Alexander Zemlinskys viel zu selten aufgeführte Lyrische Symphonie. Das expressive Werk für großes Orchester, Sopran und Bariton weist in seiner Form starke Parallelen zu Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ auf. Auch hier handelt es sich um eine Art Vokalsymphonie, die auf Texten des indischen Philosophen und Dichters Rabindranath Tagore basiert. Zemlinsky, der 1942 im unfreiwilligen amerikanischen Exil starb, setzt für das Werk einen großen Orchesterapparat ein, der einen üppigen Boden für die beiden Gesangssolisten bereitet. Die Gedichte deuten eine disharmonische Beziehung an, die am Ende gelöst wird.

Kirill Petrenko entlockt seinem Orchester eine breite Palette von Klangfarben, den Solisten ist er ein sensibler Begleiter. Der Bariton Christian Gerhaher, seit Jahren der gefeiertste Lied-Interpret, entwickelt leider einen zunehmend exaltierten Spätstil . Das mag für diese äußerst expressiven Stücke zwar angehen, wirkt am Ende aber doch künstlich und gespreizt. Im Gegensatz dazu malt die Sopranistin Lise Davidsen mit ihrer farben- und nuancenreichen Stimme ruhig fließende emotionale Bilder. Sie beweist mit jedem Ton, dass man sie heute zurecht als eine der besten Sängerinnen ihrer Stimmlage bezeichnet.

Das Publikum in der Philharmonie, die bedauerlich viele leere Plätze aufwies, zeigte sich höchst angetan von diesem ungewöhnlichen, aber sehr ansprechenden Programm. Erneut erweist sich Kirill Petrenko als Glücksfall für das Orchester und sein Publikum, indem er den Kanon der aufgeführten Werke permanent erweitert.

Peter Sommeregger, 10. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Kirill Petrenko, Berliner Philharmoniker, Philharmonie Berlin, 10. Juni 2022

Berliner Philharmoniker, Antonello Manacorda, Christian Gerhaher, Philharmonie Berlin, 6.Mai 2022

Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, Europakonzert, Philharmonie Berlin, 29. April 2022

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