Die traditionelle klassik-begeistert-Weihnachtsfeier mit Autorinnen und Autoren aus ganz Europa musste leider, leider ausfallen. Einige Klassik-Reporter machten sich dennoch auf den Weg in die Elbphilharmonie am Hamburger Hafen und verfolgten einen spannenden, einen funkelnden Konzertvormittag mit Marie Jacquot, Selina Ott und dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Alle Autoren waren begeistert – nur nicht von einem Großteil des klassikfernen, dumpf „hereinklatschenden“ Publikums.
Blick auf das Orchesterpodium von Ebene 16 X aus (Foto Ralf Wegner)
4. Philharmonisches Konzert
Elbphilharmonie, 15. Dezember 2024
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Selina Ott, Trompete
Marie Jacquot, musikalische Leitung
Bernstein: Ouvertüre zu »Candide« / Marsalis: Trompetenkonzert Es-Dur / Beach: Sinfonie e-Moll »Gaelic«
Mit den Schwingungen jedes Muskels und jeder Sehne
von Jolanta Łada-Zielke, Hamburg
Ein großartiges Konzert, mit großem weiblichen Einsatz dirigiert… ein wahres Präludium für die musikalische Feier des Internationalen Frauentags im Jahre 2025.
Es beginnt mit der Ouvertüre zu Leonard Bernsteins Candide. Der Sopranpart ist in dieser Operette anspruchsvoller als der von der Königin der Nacht in der Zauberflöte, und bereits in der Ouvertüre sind Passagen aus der Arie der Kunigunde zu hören.
Marie Jacquot leitet das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit den Schwingungen jedes Muskels und jeder Sehne. In ihrem Dirigat zeigt sich die sportliche Erfahrung, die sie mit ihrer Musikalität wunderbar kombiniert. Jacquot wechselt von ausladenden Bewegungen zu zarten Fingersätzen in der Luft, als ob sie auf einem unsichtbaren Klavier spielen würde. Man kann die biblische Aussage, dass „die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut“, auf sie beziehen. Diese französische Dirigentin verfügt über eine gespaltene Aufmerksamkeit, die sich in der durchdachten Verteilung der Bewegungen niederschlägt.
Als Schwerpunkt dieser Matinée tritt die Trompeterin Selina Ott auf, die den Solopart in dem Trompetenkonzert von Wynton Marsalis aufführt. Die Österreicherin im tief ausgeschnittenen Kleid spielt tapfer und anmutig. Jeder ihre Töne ist durchdacht, klingt rund und reicht bis in die hintersten Winkel der Elbphilharmonie. Das letzte Stück, die Symphonie e-Moll op. 32 namens Gaelic, dirigiert Jacquot mit dem Taktstock. Dieses Werk der amerikanischen Komponistin Amy Beach aus dem Jahr 1896 zeichnet sich durch symphonische Regelmäßigkeit aus und ist tonal. Der gesamte Auftritt beeindruckt stark jedes Auge und Ohr.
Schade nur, dass mehr als die Hälfte des übereifrigen Publikums nach jedem Satz des Konzerts klatscht und sogar während eines symphonischen Satzes (!), weil es glaubt, eine Sekunde der Stille für dynamische Veränderungen wäre das Ende der Symphonie.
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Frauenrausch
„Ist das jetzt das beste Orchester der Stadt?“, fragt mich mein Sitznachbar – da schmettert die Trompeterin Selina Ott gerade das Konzert von Wynton Marsalis derart über uns alle hin, dass die zweite Frau im Bunde, Marie Jacquot, im elegant-rasanten Dirigat schon sehr bestimmend sein muss, um die Zügellose zu bändigen. Hat die Dirigentin das Hamburger Staatsorchester doch schon zu Anfang bei Bernsteins Candide hochgepeitscht, was sie allerdings zur dritten Frau des Abends, der amerikanischen Symphonikerin Mary Beach (1867-1944) und ihren lyrisch-irischen, selten zu hörenden Klängen gar nicht mehr muss, so sehr legen die Musiker voller schöner Leidenschaft los! Vor allem, endlich, endlich ein Mann, der lange Recke von Konzertmeister Konradin Seitzer, in einem brillant-virtuosen Solopart, einen ganzen Satz lang tragend. Das beste Orchester der Stadt? Ich beuge mich vertraulich zum Fragenden und sage: „In diesem Moment? ZWEIFELLOS!“
Harald N. Stazol, Hamburg
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Erneut beeindrucken die Schönheit und der Klang im Großen Saal
von Dr. Ralf Wegner, Hamburg
Das Philharmonische Staatsorchester spielte mit Bravour unter der Leitung von Marie Jacquot drei US-amerikanische Kompositionen.
Man wundert sich, wie viele Leute Sonntag morgens bei Nieselwetter unterwegs waren, um von der U-Bahnstation Baumwall aus erst die Dreibrücken- und dann die Bergtour in den Großen Saal der Elbphilharmonie zu unternehmen. Was erneut beeindruckte, ist die Schönheit des Großen Saals, vor allem aber die auch oben auf Ebene 16 unmittelbar wahrnehmbare glasklare Durchhörbarkeit aller eingesetzten Orchesterinstrumente, ohne dass ein Halleffekt, ein Überschlagen des Tons oder ein greller Klang entsteht.
Das Konzert begann mit Leonard Bernsteins schwungvoller Ouvertüre zur Operette Candide. John Neumeier hat zu dieser Musik für das Hamburg Ballett eine mitreißende, von uns häufiger gesehene Choreographie entwickelt. So klar und rein und trotzdem volltönend wie bei der heutigen Aufführung war dieses Werk in der Oper allerdings nicht zu hören gewesen.
Als zweites Stück gab es ein Konzert für Trompete in 6 Sätzen von dem 1961 geborenen US-Amerikaner Wynton Marsalis. Das Jazz-Elemente verarbeitende Werk war nett anzuhören, besonders der zweite Satz, mit Ballad überschrieben. Selina Ott spielte dazu die Trompete.
Nach der Pause wurde die Gaelic Sinfonie in e-Moll der US-Amerikanerin Amy Marca Beach (1867-1944) aufgeführt. Es begann fast wie Wagners Fliegender Holländer mit musikalisch wie gemalt hingeworfenen Wellen- und Sturmbildern. Entsprechend dem Programmheft hat die Komponistin das Schicksal der irischen Bevölkerung in den 1840er-Jahren vertonen wollen. Damals verhungerten wegen der grassierenden Kartoffelfäule 12% der Menschen, weitere 25% wanderten nach Amerika aus und begannen dort ein neues, erfolgreicheres Leben. Entsprechend majestätisch endete dann auch der letzte Satz dieser Sinfonie.
Das Publikum spendete freundlichen und langanhaltenden Beifall, bis die Dirigentin Marie Jacquot schließlich abwinkte und das mit Bravour aufspielende Philharmonische Staatsorchester entließ.
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Die Sinfonie von Amy Beach ist unter dem Dirigat von Marie Jacquot nichts weniger als eine Sensation
von Dr. Brian Cooper, Bonn
Nach dem ergreifenden Konzert der Englisch Baroque Soloists und des Monteverdi Choir unter Christophe Rousset am Vorabend spielte das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Marie Jacquot ein fulminantes Matinéekonzert mit einem rein US-amerikanischen Programm.
Bernsteins Candide-Ouvertüre erklang langsamer als gewohnt, hatte aber viel Schwung und Drive, und man ahnte schon hier, dass man in einem sehr guten Konzert war. Selina Ott spielte klangprächtig, unaufgeregt und sehr variabel das Trompetenkonzert von Wynton Marsalis – ein gewaltiger, ein raffinierter Beitrag zum Konzertrepertoire, der sich halten und dauerhaft mehr Swing in den Konzertsaal bringen wird, spannend und transparent dargeboten.
Höhepunkt war die Sinfonie op. 32 von Amy Beach, Gälische genannt und 1896 in Boston aufgeführt. Die Hamburger Darbietung war nichts weniger als eine Sensation. Dieses melodienreiche Werk („so dramatisch, so witzig!“ rief meine Begleiterin beim Applaus) muss einfach häufiger aufgeführt werden! Dem würden sicher auch die film- und klatschfreudigen Busladungen von Elphi-Eventlern zustimmen.
Ich war von dieser persönlichen Entdeckung ähnlich hingerissen wie weiland in Lissabon, als ich zum ersten Mal die Musik von Joly Braga Santos hörte, und in der Berliner Philharmonie, als ich Hans Rotts Sinfonie entdecken durfte.
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Die Mischung macht’s in der Elphi
von Dr. Bianca Gerlich, Cremlingen bei Braunschweig
Das 4. Philharmonische Konzert in der Elbphilharmonie am
15. Dezember 2024 stand im Zeichen amerikanischer Musik.
Die Dirigentin Marie Jacquot ließ das Philharmonische Staatsorchester Hamburgs sich in Bernsteins Ouvertüre zu „Candide“ austoben, brachte es im Trompetenkonzert von Marsalis zum Funkeln und bescherte uns noch eine bemerkenswerte spätromantische Symphonie von Beach.
Diese 1896 in Boston uraufgeführte Gaelic Symphony verarbeitete traditionelle irischen Weisen, die sehr eingängig und wiedererkennbar waren, wenn sie in den verschiedenen Sätzen wieder auftauchten. Die Komposition wies eine beeindruckende Instrumentierung auf, die von Jacquot und Orchester vorzüglich herausgearbeitet und transparent gemacht wurden.
Die junge Solistin Selina Ott überzeugte mit der Beherrschung ihrer Trompete, die sehr virtuos in dem erst 2023 uraufgeführten Konzert eingesetzt war, sehr einprägsam am Anfang und Ende mit einem Elefantenruf. Der erste Teil (Bernstein, Marsalis) hat viel Spaß gemacht, der zweite Teil war zum Schwelgen, Erinnern und auch zum Nachdenken über die verlorene Welt der irischen Auswanderer einerseits, andererseits über den Neubeginn auf einem anderen Kontinent.
Eine gelungene Mischung in der Elphi!
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Fetzig, forsch und markant: Ein ungestümer Wirbelsturm macht munter
von Dr. Gerd Klingeberg, Ritterhude bei Bremen
Das Orchester geht unter dem motivierenden Dirigat von Marie Jacquot aus dem Stand in die Vollen und liefert bei Leonard Bernsteins „Candide“-Ouvertüre einen rasanten Blitzstart ohne jeden Gripverlust. Wie ein ungestümer Wirbelsturm pustet das fetzig forsche, von markanter Rhythmik strukturierte Spiel bei den Zuhörern jeglichen möglichen Rest sonntäglicher Morgenmüdigkeit aus den Hirnwindungen.
Damit ist auch gleich Platz geschaffen für die nicht ganz einfache Rezeption des nachfolgenden Trompetenkonzerts von Wynton Marsalis. Die 6 recht unterschiedlich angelegten Sätze bieten eine spannende Melange aus raffiniert miteinander verwobenen jazzigen und klassischen Motiven; ihr solistischer spieltechnischer Schwierigkeitsgrad ist – ganz besonders im schnellen „Harlequin Two-Step“-Finalsatz mit seinen schier endlosen Figurationen – extrem hoch, wird indes von der österreichischen Trompeterin Selina Ott klassisch-virtuos mit sauberem Ansatz bravourös gemeistert.
Die brillant orchestrierte Symphonie e-Moll „Gaelic“ von Amy Beach ließe sich dagegen als der perfekte Soundtrack eines Monumentalfilms bezeichnen, der bei den Zuhörenden auch ohne Kenntnis eines Drehbuchs unzählige Szenerien entstehen lässt, die in spannungsvoller Stringenz nahtlos aufeinanderfolgen. Der hochemotionale, auf einer schlichten Volksliedweise aufgebaute 3. Satz Lento con molta espressione ist einfach nur zum Heulen schön; sein End-Pianissimo scheint dank der phänomenalen Akustik sogar noch nach dem Verklingen wie ein hauchfeines Gespinst im Raum zu schweben. Und selbst der bei diesem Konzert in sämtliche, auch vermeintliche Satzenden hineingeklatschte Beifall bleibt – endlich einmal! – zumindest für kurze Momente ergriffenen Nachsinnens aus, brandet dafür aber nach dem fulminanten Finale umso begeisterter auf.
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Akustisches Kino an der Hafenkante
Wir, Sigrid und Oliver aus Hamburg, hatten das Vergnügen, in Vertretung von Anne Zimmer das 4. Philharmonische Konzert in der Elphi genießen zu dürfen.
Dieses Programm war in jeder Hinsicht eine positive Überraschung für uns!
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der jungen Dirigentin Marie Jacquot lieferte mit Bernsteins überschäumend gutgelaunter Ouvertüre zu Candide einen idealen Einstieg, und Wynton Marsalis Concerto for Trumpet mit der Solistin Selina Ott ist eine echte Entdeckung für uns! Auch die wunderbare, ganz von der Spätromantik geprägte Gaelic Symphonie von Amy Beach hat uns sehr beeindruckt und uns stellenweise an Dvořák und auch an Brahms erinnert.
Redaktion: Andreas Schmidt
Ich kann erzählen, dass – im Unterschied zu einem anderen all-American Konzert vom 29.August (mit Ives – Gershwin – Copland damals) am 16. Dezember, abends, als das Konzert wiederholt wurde, niemand an den falschen Stellen geklatscht hat. Ich kannte von Amy Beach seit Jahrzehnten Klaviermusik (im SWF, SDR und SR, wie die Sender damals hießen, wurde zu meiner Freude ab 1980 viel klassische Musik von Frauen gesendet. Es gab dann 1990 auch ein halbes Jahr lang eine wöchentliche Sendereihe, wobei die „Gaelic Symphony“ nicht unter den vielen Aufnahmen war, sonst aber unglaublich viel).
Es war ein sehr schönes Konzert, und ganz selten mal hatten wir den Eindruck, die wunderbare Dirigentin Marie Jacquot hätte die Blasinstrumente und Schlaginstrumente nicht ganz im Griff – aber vielleicht wollte sie es ja grade so schmetternd. Es war ein wunderschöner Abend, und als Klassik-Besucher, die nicht allzu oft in Konzerte gehen können, wunderten wir uns nur, dass keine Zugabe gegeben wurde. Ist das üblich? Dann wieder war die Gaelic Symphony so schön, dass vielleicht gar nichts anderes dahinter gepasst hätte. Wir gingen mit leichtem Ohrensausen, aber sehr glücklich nach Hause :). Die Gaelic Symphony hat 1991 Neeme Järvi aufgenommen, sehr gut, finde ich, und dann nochmal das Nashville SO – da könnten doch noch viele Aufnahmen dazukommen. Ich würde mal gern ein Konzert mit einem Werk von Dvořák und dann Amy Beach hören, und finde, beide sind gleichwertig.
Mir schrieb nach dem August-Konzert zum Klatschen eine Musikkritikerin. Ihr gefällt das so wenig wie den meisten, aber dann wieder möchte sie, dass es noch seeeehr lange klassische Konzerte gibt. Und grade die „Elphi“ wird eben viel von TouristInnen besucht, und die Dirigentinnen und Dirigenten sagen ja auch nichts. Warum nicht? Als ganz junger Kerle war ich mal bei einer Aufführung der 2. Orchestersuite von Bach, BWV 1067, im Sommer 1985, draußen am Bodensee. Als die Leute, die selten solche Stücke hörten, nach der Ouvertüre klatschten, sagte eine Violinistin ihnen, das würde die Musikerinnen in der Konzentration stören, und – da ließen es alle :). Ich glaube, das würden viele in der Elphi, ohne beleidigt zu sein, verstehen. Ist halt so – viele gehen eher in techno house hiphop usw. Konzerte oder Discos, und wissen das schlicht nicht.
Denn es ist ein Fakt, dass auch viele Reisende in unserer reisewütigen Zeit (was 10% der Menschheit betrifft) nach Hamburg kommen, vor allem unbedingt die Elphi besuchen wollen, und deshalb ein Ticket mit zum Kurzurlaub angeboten wird. Vor allem im August-Konzert merkte ich vielen an, dass es ihnen weniger um 3 places in New England oder um Coplands Sinfonie ging, sondern um die Elbphilharmonie. Aber die Kritikerin schrieb mir auch, in z.B. der Berliner Philharmonie würde genauso mittenreingeklatscht. Vielleicht erklärt mans den Leuten, obwohl die Angst, als „Oberlehrerin“ bezeichnet zu werden, in unseren Jahren hoch zu sein scheint^^. Dabei würden die Leut das sicher gern wissen. Sie denken ja, man erwartet den Applaus von ihnen.
G. Fries