Feenstaub und Donnergrollen

Lahav Shani & Martha Argerich, Ravel »La valse« und Prokofiew »Symphonie class ique« an zwei Flügeln Konzerthaus Dortmund, 23. April 2023

Martha Argerich © Adriano Heitman

Martha Argerich und Lahav Shani gastieren in Dortmund. Ein Traum von einem Programm – traumhaft interpretiert


Konzerthaus Dortmund, 23. April 2023

Sergej Prokofjew (1891-1953) – Sinfonie Nr. 1 op. 25, „Symphonie classique“ (1917), Fassung für zwei Klaviere

Sergej Rachmaninow (1873-1943) – Suite für zwei Klaviere Nr. 2 C-Dur op. 17 (1901)

Maurice Ravel (1875-1937) – „Ma mère l’oye“ für Klavier zu vier Händen

Maurice Ravel – „La valse“, Poème choréographique (1920), Fassung für zwei Klaviere

Martha Argerich, Klavier

Lahav Shani, Klavier


von Brian Cooper, Bonn

Am Vorabend des Eröffnungskonzerts des Klavier-Festivals Ruhr wird dessen scheidender Intendant, Franz Xaver Ohnesorg, im Foyer des Konzerthauses Dortmund gesichtet. Der Mann mit der Fliege scheint einfach überall zu sein, wo ein Flügel auf der Bühne steht. Oder zwei.

In diesem Fall interessiert ihn möglicherweise der direkte Vergleich mit einem Klavierabend acht Tage später, den er selbst organisiert hat und an dem wiederum, wie in Dortmund, zwei Generationen an zwei Klavieren spielen werden, nämlich Daniil Trifonov und sein Lehrer Sergei Babayan. Auch sie werden Rachmaninow spielen.

In Dortmund, wo neben Rachmaninow auch Prokofjew und Ravel gespielt werden, ist der Altersunterschied noch größer. Es spielen die große Martha Argerich und der derzeitige „Exklusivkünstler“, wie man es am Konzerthaus nennt, Lahav Shani, der im Hauptberuf Chefdirigent von Rotterdams Philharmonisch Orkest sowie des Israel Philharmonic Orchestra ist.

Lahav Shani © Marco Borggreve

Martha Argerich ist nur noch selten allein auf der Bühne zu erleben. Dafür sind ihre Auftritte mit Orchester und vor allem ihre kammermusikalischen Partnerschaften Ereignisse. Man denke nur an Verbier. Oder eben das Klavier-Festival Ruhr, wo sie mit beeindruckender Regelmäßigkeit auftritt. Ein Schumann-Quintett vor vielen Jahren bleibt unvergessen. Ebenso das einzige Mal, da ich sie solo hörte, mit Schumanns Kinderszenen in einer „Sternviertelstunde“ in Köln. Und ihre Fans nehmen weite Anfahrten auf sich. Klar, dass das Konzerthaus ausverkauft ist.

Prokofjews geistreich-humorvolle erste Sinfonie zeigt in der Fassung für zwei Klaviere noch konturenschärfer, wie gut das komponiert ist. Diese schwierigen Intervallsprünge, die die ersten Violinen im ersten Satz der Orchesterfassung zu spielen haben, kommen unter den Händen von Argerich und Shani federleicht rüber. Ein weiteres Ereignis, diesmal im zweiten Satz: Martha Argerich spielt die Diskantstimme, und sie schlägt im fünften Takt den ersten Ton an, ein A. Gut, werden Sie einwenden, das machen viele, das ist ihr Job. Aber: Es ist einfach ein dermaßen fantastischer Anschlag, mit dem sie diesen Satz beginnt! Wie sagt Loriot: „Nicht zu schwer, und nicht zu leicht.“ In diesem einen Ton steckt unendlich viel Musik! Aber es ist von Beginn an ein Musizieren auf Augenhöhe, auch Shani ist brillant. Der dritte Satz dann mit der gebührenden Ironie, der vierte irrwitzig präzise.

Dann die zweite Suite von Rachmaninow. Ein Kracher des Repertoires. Es gibt mindestens zwei Aufnahmen von La Martha (in den Verbier-Schubern vom EMI habe ich noch gar nicht geschaut). Einmal die mit Nelson Freire, und die hat bei Decca schon Kultstatus. Und dann gibt es die mit Alexandre Rabinovitch, meine Lieblingsaufnahme. Man sollte sich anschnallen, bevor man auf die Fernbedienung drückt.

Der erste Satz reichte in Dortmund ganz knapp nicht an diese Orkanstärke heran, aber das ist keine Kritik. Die beiden fegten trotzdem über die Tasten, als gäb’s kein Morgen. Dieses gemeinsame rallentando zum Ende des ersten Satzes – und überhaupt, wie die beiden das gesamte Stück über miteinander atmeten – war irrsinnig gut. Voller Leidenschaft, lyrisch-schwelgerisch und natürlich mit dem großen, vollen Klang der prächtig eingestellten Konzertflügel.

Die beiden Ravel-Stücke nach der Pause zählen ebenfalls zum Kernrepertoire für zwei Klaviere bzw. Klavier zu vier Händen. Sowohl von Ma mère l’oye als auch von La Valse gibt es hinreißende Orchesterfassungen des Meisters selbst, aber auch die Klavierversionen sind klasse, wenn man sie so hören darf wie in Dortmund.

Märchenhaft begann es zunächst, denn die fünf Stücke – im Grunde sind es Miniaturen – basieren auf Perrault-Märchen. Jedes der Stücke hat eine eigene Klangfarbe, wie das Programmheft suggeriert. Ravel verstreut viel Feenstaub und französischen Charme, und genau das tun auch Argerich und Shani. Es ist dahingehaucht, es hat Esprit, das zweite Stück unendlich zart, der Walzer (vorletztes Stück) unwiderstehlich, und die zarte Schlichtheit des letzten Stücks, die in dieser wundervollen C-Dur-Apotheose mündet (unbedingt die Orchesterversion mal live hören, falls Sie es noch nicht getan haben!), zählt für mich zum Allerschönsten, was Ravel komponiert hat.

Gleiches gilt für La Valse: Diese bitterböse Parodie auf die Wiener Walzerseligkeit ist sowohl in der Fassung für zwei Klaviere als auch in der Orchesterversion ein Riesenvergnügen. Wie das in Dortmund zunächst grummelte und dann donnerte, bis zu dem Punkt, da die fünf rasanten Akkordschläge dem Werk ein jähes Ende setzen: Ungefähr so muss es sein, wenn Jugendliche bei einer Party rumknutschen und die unbemerkt heimgekehrten Eltern plötzlich die Musik aus- und das Licht anmachen…

Lahav Shani, ganz gentleman, nimmt Marthas Hand, wenn er sie auf die Bühne bzw. von der Bühne geleitet. Er lässt ihr den Vortritt. Klar, die meisten sind wegen ihr hier, und er ist dieser Tage eh viel im Ruhrgebiet. Was für standing ovations! Man könnte fast meinen, Freddie Mercury sei wiederauferstanden.

Zwei Zugaben vollendeten diesen erfüllenden Abend. „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, im Arrangement des Ehepaars Kurtág, rührte zu Tränen. Tschaikowskys Tanz der Zuckerfee aus dem Nussknacker wäre danach eigentlich nicht mehr nötig gewesen, aber man ist für jede Note dankbar.

Beim Einnehmen der Plätze vor Konzertbeginn und nach der Pause fällt auf, dass das Dortmunder Publikum ein höfliches ist. Die meisten Menschen bedanken sich, wenn man für sie aufsteht, um sie in die Reihe zu lassen. Das trägt zur schönen Atmosphäre im Haus bei und passiert in Köln leider nur noch selten.

Übrigens spielt Lahav Shani am 2.5. in Bochum ein reines Prokofjew-Programm. Und Martha Argerich spielt am 6.6. in Wuppertal mit Mischa Maisky. Das soll nicht unerwähnt bleiben. Gehen Sie hin, wenn Sie Zeit haben. Sie werden es nicht bereuen.

Dr. Brian Cooper, 24. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Klavierfestival Ruhr, Marc-André Hamelin und Leif Ove Andsnes  Mülheim an der Ruhr, Stadthalle, 1. Juni 2022

Berliner Philharmoniker, Daniel Barenboim, Dirigent, Martha Argerich, Klavier Philharmonie Berlin, 6. Januar 2023

Martha Argerich Festival 20. – 29. Juni 2022, Hamburg Laeiszhalle Hamburg, 25. Juni 2022 (Kleiner Saal)

Ein Gedanke zu „Lahav Shani & Martha Argerich, Ravel »La valse« und Prokofiew »Symphonie class ique« an zwei Flügeln
Konzerthaus Dortmund, 23. April 2023“

  1. Natürlich stimme ich dem begeisterten Herrn Cooper zu. Unsere Stoßgebete seit November lauteten immer: Lieber Gott, lass Frau Argerich durchhalten. Sie wurden mehr als erhört (!) und die bange Frage, ob ein ungleiches Duo ein gemeinsames Timing bringen kann, wurde auch bestens gelöst.
    Ja, es war fantastisch und nebenbei habe ich endlich einmal gelesen, dass es außer mir noch mehr Menschen gibt, die von Bach zu Tränen gerührt werden, was Marcel Reich-Ranicki einst abbürstete und nur bei Mozart empfand.
    Eine klitzekleine Kritik: Während Frau Argerich sich wie immer ausgiebig verbeugte, hatte es Herr Shani einmal so eilig, dass er währenddessen schon wieder am Flügel saß.
    Ein toller Konzertabend, vielen Dank!

    Irmgard Hilger

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