„Wenn nur ein Traum das Leben ist…“– Beim 5. Philharmonischen Konzert in der „Elphi“ begegnen sich Messiaen und Mahler

5. Philharmonisches Konzert, Olivier Messiaen und Mahler  Elbphilharmonie, Hamburg, 12. Januar 2025

Kent Nagano und Pierre-Laurent Aimard © Daniel Dittus

Wie bringt man ein buntes Kirchenfenster zum Klingen, wie es Olivier Messiaen in seinen „Couleurs de la Cité céleste” umgesetzt hat? Und wie passt Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ programmatisch zu einem Stück der musikalischen Avantgarde der 60er Jahre? Das 5. Philharmonische Konzert des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg unter Leitung von Kent Nagano versuchte, darauf am 12. Januar 2025 im Großen Saal der Elbphilharmonie eine Antwort zu geben.

Olivier Messiaen, „Couleurs de la Cité céleste” für Klavier, Bläser und Schlagwerk

Gustav Mahler, „Das Lied von der Erde“. Eine Symphonie für eine Tenor- und eine Altstimme und Orchester

Kent Nagano, Dirigent

Pierre-Laurent Aimard, Klavier
Karen Cargill, Mezzosopran
Stuart Skelton, Tenor

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Elbphilharmonie, Hamburg, 12. Januar 2025

von Dr. Andreas Ströbl

Farbenschillernd und harmonisch oder doch eher bunt und grell?

Um die erste Frage zu klären, fragen wir am besten den Komponisten selbst. „Die Form dieses Werkes ist gänzlich von Farben bestimmt“, sagt Messiaen. „Die melodischen oder rhythmischen Themen, die Ton- und Klangfarbenkomplexe entwickeln sich wie Farben. In ihren ständig erneuerten Veränderungen findet man (durch Analogie) warme und kalte Farben, komplementäre Farben, die ihre benachbarten Farben beeinflussen, Farben mit Abtönungen zu Weiß und zu Schwarz hin.“

Beim Lesen dieser Ausführungen und die prachtvollen Buntglasfenster einer gotischen Kathedrale vor dem inneren Auge, wird man gleichsam im inneren Ohr eher eingängige Harmonien erwarten, wenngleich bei Messiaen ja immer mit Brechungen und Härten zu rechnen ist. Die himmlische Stadt, wie sie in der Johannesapokalypse erwähnt wird und deren imaginierte Farben Messiaen hier zu Tönen verarbeitet hat, ist ja kein romantischer Entwurf; vielmehr beschwört er die Vorstellung des Geblendetseins, das zum Glauben führt.

Diese Blendung kann man sich kaum als angenehm vorstellen, eher als hartes Aufrütteln mit dem Ziel, den Sehenden zu einer radikalen Umkehr durch das temporäre Nichtsehen-Können zu bewegen. So ging es Paulus bei Damaskus und das war kein Kuschel-Kurs eines allzu lieben Gottes. Als „außergewöhnlich, extravagant, surreal und erschreckend“ beschrieb Messiaen seine Visionen der Apokalypse; das Wort bedeutet ja „Enthüllung“, und wir sprechen von der „Offenbarung“ des Johannes. Wenn etwas offenbart wird, dann muss man sich darauf gefasst machen, eben das Unerwartete, Aufrüttelnde, Verstörende zu erblicken oder zu hören.

In der Tat ist dieses 1964 uraufgeführte Werk für Klavier, Bläserensemble und Schlagwerk eine akustische Herausforderung, denn Messiaen spielt zwar auch hier wieder mit den charakteristischen Vogelstimmen-Zitaten, aber das Stück ist durchzogen und geprägt von meist harter, unruhiger Rhythmik, jähen Abbrüchen und Schnitten, knallenden Akzenten und Dissonanzen. Außer dem dominierenden Klavier besteht das überschaubare Orchester aus Blasinstrumenten und vielseitigem Schlagwerk, darunter Röhrenglocken. Letztere bringen einen sakralen Aspekt in die wie Fragmente aneinanderstoßenden Klangfolgen, die erst im späteren Verlauf des Stücks zeitweise ineinanderfließende Linien bilden.

Wenn man schon an Kirchenfenster denken soll, dann bietet sich eher an, die Werke von Johannes Schreiter zu assoziieren, der Dutzende von vor allem deutschen Kirchen mit seinen extravaganten Fenstern ausgestattet hat. Der zeitgenössische Künstler arbeitet mit Rissen, Brüchen, Fragmenten und Architekturzitaten; seine Arbeiten fügen sich zwar gekonnt in das architektonische Ganze der Bauten ein, wirken aber niemals gefällig.

Schlussapplaus © Daniel Dittus

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard setzt den mitunter unbarmherzigen Duktus mit sekundenbruchteilgenauer Akkuratesse um und macht deutlich, dass die Blendung durch das Grelle auch wehtun kann. Sein Anschlag ist oft von explosiver Härte und Dynamik, sein völlig unprätentiöses Spiel hochkonzentriert und von nüchternem Ernst. Das ist kein Stück für Harmoniesucher, was Solist und Orchester in aller kristallinen Klarheit und, man muss es auch bei diesem religiös ausgerichteten Werk sagen, unmittelbarer Gnadenlosigkeit wiedergeben.

Kent Naganos Einsätze sind exakt und akzentuiert – er kennt Messiaens Kompositionen besser als die meisten anderen Dirigenten, denn er hat lange mit dem Komponisten zusammengearbeitet und seine Werke teils in der Entstehung mitbegleitet.

Und so schaffen er und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg es, das Ganze hinter den Fragmenten zu etwas zu formen, was in den gemessenen Passagen an „Kintsugi“, die japanische Technik, zerscherbtes Porzellan mit Gold zu kitten, denken lässt. Die Form ist wieder da, aber die Risse bleiben sichtbar, ja beherrschen das Erscheinungsbild und werden zum Gestaltungselement.

„Haben Sie eine Ahnung, wie man das dirigieren soll? Ich nicht!“

Zur zweiten Frage, wie und ob überhaupt Mahlers „Lied von der Erde“ zum ersten Teil des Konzerts passen mag, so dürfte sich dies darauf beschränken, dass – jenseits der klanglichen Nichtverwandtschaft – diese „Symphonie in Gesängen“, um mit Mahlers eigener Bezeichnung zu sprechen, in den Himmel, ins Unendliche, ins Ewige weist. „Die Erde ist im Entschwinden, eine andere Luft weht herein, ein anderes Licht leuchtet darüber“, so Bruno Walter über dieses Ausnahmewerk, das sich aus sechs Vertonungen der Gedichte Hans Bethges, „Die chinesische Flöte“, zusammensetzt. Es sind Nachdichtungen altchinesischer Lyrik, aber der Exotismus ist hier sekundär, wenngleich das Aufgreifen von Pentatonik zumindest in zweien der Lieder in den Fernen Osten verweist.

Gustav Mahler © Moritz Nähr

Um nochmals Bruno Walter zu zitieren: Er bezeichnet „das „Lied von der Erde“ [als] das „Mahlerischeste“ seiner Werke“, weil hier das Ich in grenzenloser Empfindungskraft zum Erlebnis an sich wird; Text und Ton geben Einblick in die Seele dessen, der sich auf seinen Abschied von der geliebten Erde vorbereitet. Mahler hat die Uraufführung nicht mehr erlebt; die Schicksalsschläge, die visionär mit dem Hammer Jahre zuvor aus der 6. Symphonie knallten, hatten sich bei der Komposition im Jahre 1908 als existentiell manifestiert: Der Tod der geliebten Tochter Maria Anna ein Jahr zuvor, sein konfliktbegleiteter Weggang von der Wiener Hofoper und die Diagnose seiner damals unheilbaren Herzkrankheit warfen die schwärzesten Schatten über Leben und Schaffen.

Da es auch in der Ehe mit Alma alles andere als zum Besten stand, hätte es nicht verwundert, wenn der schwermütige Mahler klinisch depressiv geworden wäre. Aber, und das wird am vollendetsten im abschließenden „Der Abschied“ erlebbar, Mahler ergießt seine ganze Liebe zur Erde und ihren Geschöpfen in diese musikalische Dichtung; im Erleben der Welt und ihrer Schönheit entsteht ein Hymnus von in den letzten Tönen unfassbarer Zartheit, und das Leben enthebt sich in die Ewigkeit.

Mahler wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich auch in den Tiefen des Seins nicht in den Humor gerettet hätte, und so scherzte er gegenüber Bruno Walter, dem er das Manuskript zum Studium übergeben hatte: „Haben Sie eine Ahnung, wie man das dirigieren soll? Ich nicht!“

Nagano dirigiert am 12. Januar diese Liebeserklärung an das Leben vor dem Hintergrund der Todesgewissheit sicher, souverän und mit Hingabe. Ein paar störende Klatscher nach dem Eingangslied ignoriert er, wird aber fast ungeduldig, als die sanatoriumsreife Husterei nach dem zweiten Lied kaum enden will.

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Elbphilharmonie, Kent Nagano, Martin Helmchen © Claudia Hoehne

Das Orchester spielt makellos, gerade die hohen Streicher bestechen durch samtigen Strich. Harfen und Flöten geben der Zartheit klingende Gestalt, während die tiefen Streicher und Blechbläser das Dunkle von Leben und Tod drohen lassen. Doch ist das Leben ohnehin nicht nur ein Traum, wie es im 5. Lied heißt?

Karen Cargill singt als Mezzosopranistin die eigentlich für Altstimme geschriebenen Lieder „Der Einsame im Herbst“, „Von der Schönheit“ und vor allem „Der Abschied“ mit ebensoviel warmer Kraft wie dynamischer Ausgewogenheit. Die Modulationen gestaltet sie feinnervig und dem anspruchsvollen Werk absolut angemessen, und auch wenn der Text oft schwer verständlich ist – dazu ist das Orchester zu gewaltig – dringt sie stimmlich vor allem im finalen Lied mühelos durch den breiten Klangstrom.

„Das Trinklied vom Jammer der Erde“, „Von der Jugend“ und „Der Trunkene im Frühling“ überfordern allerdings den an diesem Tag völlig indisponierten Stuart Skelton. Viermal überschlägt sich seine Stimme, er hält die langen Töne nicht und was, dem Instrumentalklang angemessen, ausgezogen werden müsste, bricht bei ihm einfach ab. Ganz offensichtlich ist der Sänger gesundheitlich angeschlagen und das hätte man zuvor ansagen, besser aber rasch für einen Einspringer sorgen müssen, dann das hat sich in den Proben sicher angedeutet. Dass man ihn also oft kaum hört, ist fast besser, denn so obsiegt der Orchesterklang und das Werk nimmt nicht noch weiteren Schaden.

Glücklicherweise strahlen die von Karen Cargill gesungenen letzten Worte des „Abschieds“ „ewig, ewig…“ golden in die Ferne und so findet diese so persönliche Schöpfung einen würdigen, ja liebevollen Abschluss.

Dr. Andreas Ströbl, 13. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Arnold Schönberg, Gurre-Lieder für Soli, Chor und Orchester, NDR Elbphilharmonie Orchester, NDR Vokalensemble, MDR-Rundfunkchor, Rundfunkchor Berlin, Alan Gilbert Elbphilharmonie, 11. September 2024

Gustav Mahler, Das Lied von der Erde, Klaus Florian Vogt, Christian Gerhaher Bayerische Staatsoper, München, Live-Stream am 8. März 2021

CD-Rezension: Gustav Mahler, Das Lied von der Erde, Vladimir Jurowski

Das Lied von der Erde, Ballett von John Neumeier, Klaus Florian Vogt, Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg

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