So bringt man auch die neueste Musik unter die Leute: Matthias Pintscher begeistert als Komponist wie Dirigent in Hamburg

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Matthias Pintscher, Leila Josefowicz  Elbphilharmonie Hamburg, 7. Februar 2024

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Ganz wie zu Beethovens Zeit: Im angesagtesten neuen Konzertsaal der Klassik-Szene dirigiert Matthias Pintscher sein eigen komponiertes Violinkonzert und begeistert dabei das Hamburger Publikum für die neueste Musik. So sind diese eher dissonanten Klänge auch für klassisch gestimmte Ohren ein wahrer Genuss!  

Elbphilharmonie Hamburg, 7. Februar 2024

Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Matthias Pintscher, Dirigent

Leila Josefowicz, Violine

Werke von Maurice Ravel, Matthias Pintscher und Robert Schumann

von Johannes Karl Fischer

Eine meterhohe Partitur liegt auf dem Dirigentenpult, auch die Solistin des Abends bekommt einen Notenständer. Was gibt’s denn heute feines zu hören… Boulez, Ligeti, Stockhausen? Nein, ein Violinkonzert von Matthias Pintscher. Der hat doch aber gerade erst Ravel dirigiert? Richtig, und gut so!

Vor dem Dirigieren kommt das Komponieren: Zu Zeiten Mozarts und Beethovens war das eigentlich selbstverständlich. 250 Jahr später, wo der Klassik-Betrieb in einigen Teilen museale Züge annimmt, ist diese Tradition leider weitgehend ausgestorben. Nicht so bei Matthias Pintscher: Der westfälisch-New Yorker-Komponist präsentiert mit passioniertem Dirigat sein nicht einmal drei Jahre junges Werk und begeistert damit die hochmotiviert spielende Bremer Kammerphilharmonie wie auch das Elbphilharmonie-Publikum.

Für manche der modernen Musik nicht erprobten Ohren mag das ein wenig ungewohnt klingen. Auch Pintscher arbeitet mit vielen Dissonanzen, an einer Stelle schwebt lediglich der Hauch eines geriebenen Trommelfells durch den Saal. Und die Schlagwerker ziehen mal wieder Kontrabassbögen über Blechbecken.

Irgendwie klingt das alles befreiend, als hätte man sich nun von all den schier überfluteten Reizen der Außenwelt völlig erholt. Wir leben in stürmischen Zeiten, da darf es auch in der Musik gerne mal wild werden, wenn das Orchester zwischen Momenten magischer Stille all seine musikalische Kraft durch den Saal wirft. Und am Ende steht die Solo-Violine ganz allein da und lässt den Klang mit einem süßen Gesang quasi im Nichts verschwinden. Das ist wie Reinigung für die Seele…

Dieses zum Teil verrückt virtuose Violinsolo übernahm die kanadische Geigerin Leila Josefowicz. Auch sie trug maßgeblich zur gelungenen Überlieferung dieser spannenden, neuen Musik bei. Sichtlich begeistert führte sie das Publikum durch alle Ecken des musikalisch-emotionalen Spektrums, so wusste sie mit auch auf furios dissonanten Melodien zu tanzen und mit an sich etwas schräg klingenden Akkorden zu jonglieren. Leider war das Ganze nach 30 viel zu kurzen Minuten schon vorbei. Schade, in dieser ziemlich verrückten Welt bräuchten wir dringend mehr solche den Kopf freischüttelnde Musik.

© Chris Lee

Als musikalische Vorspeise gab es Ravels Suite Ma mère l’oye (Mutter Gans). In der Ferne klingt der Hauch einer Horn-Pavane, spaßige Bratschen-Rhythmen und ein keckes Kontrafagottsolo schmücken die musikalische Märchenstunde. Märchenstunde nicht im Sinne der Lesestunde mit extrem unschönen Grimm-Geschichten, sondern in Sinne von warmen, die Kindheitsphantasie weckenden Bildern. Als stünde man unter strahlender Sonne mitten vor Monets blauen Seerosen, ein üppig besetztes Orchester spielt dazu fabelhafte Feenmusik.

So, das 21. und 20. Jahrhundert wären abgehakt, nach der Pause kommt mit Schumanns Frühlingssinfonie noch das 19. dazu. Auch hier kehrt die fröhliche Stimmung zurück auf die Bühne, die Klarinetten tanzen wie auf einer grünen Alpenwiese flott durch den Saal. Federleicht gelingt Pintscher diese Interpretation, er lässt die Streicher stets fein spielen wie zwischen blühenden Bäumen an einem heiteren Aprilsonntag. Ich habe diese Sinfonie schon mit den verschiedensten Spitzenorchestern der Klassik-Welt gehört; noch nie klang diese Sinfonie so heiter und luftig wie heute!

Vor knapp einem Jahr habe ich Matthias Pintscher in München gehört, und zwar mit dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunk. Gegen welches sich die Bremer Kammerphilharmonie übrigens an 9 von 10 Tagen künstlerisch deutlich geschlagen geben müsste. Wo lag der Unterschied?

Während  Herr Pintscher sich in Bayern mit einem halbleeren Herkulessaal zufriedengeben musste, passte in die Weinberg-Architektur der Elbphilharmonie kaum noch ein Blatt Papier rein. Irgendwas scheint da in Bayern mit musica viva – nach wie vor einer der wichtigsten Konzertreihen für Gegenwartemusik – schief zu laufen. An der Elbe zeigt Matthias Pintscher, wie man auch die neueste Musik unter die Leute bringt!

Johannes Karl Fischer, 8. Februar 2024 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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