Elphi statt Kirche

Foto: Thies Rätzke (c)
Elbphilharmonie Hamburg
, Kleiner Saal, 24. Juni 2018
6. Kammerkonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg

Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska

Das Konzert ist restlos ausverkauft. Alle wollen in die Elphi. Wenigstens einmal im Leben. Und wenn schon der Ausflug nach Hamburg auf einen Sonntag fällt, dann halt Elphi statt Kirche. Und es ist nichts dagegen einzuwenden, denn „wenn es Gott geben sollte, würde er in der Musik wohnen…“ Wer hat das gesagt?

Und wie am Sonntag in der Kirche gibt es solche und solche. Die einen, die ich nicht mag, tragen Jack-Wolfskin-Windjacken und behalten sie auch im Konzertsaal an. Feine hanseatische Gesellschaft, demonstrativ zwei Euro Garderobengebühre sparend, fand – wie immer – eine elegante Sowohl-als-auch-Lösung. Man behält die Windjacke an, aber sie ist aus Wildseide, Wildleder, Wild-was-weiß-ich, so nach dem Motto: „Na gut, die Zeiten ändern sich“ oder „Wir wollen uns nicht vom Volk absondern“.

Das obige bezieht sich ausschließlich auf die Männerwelt. Die Damen – wie schon immer – finden eine elegante Lösung: Das Oberteil, dass sowohl wärmend und wasserabweisend wie auch farblich mit dem Outfit zusammenpasst, wirkt meistens gelungen. Praktisch sowieso: auf der offenen Plaza kann es zuweilen wie auf einem Segelboot zugehen: windig, rauh und salzig zugleich. 

Der Kleine Saal der Elbphilharmonie ist gar nicht klein; im Vergleich zum Großen Saal ist er sehr konservativ ausgestaltet. Langes Viereck, die Bühne vorn, die Stuhlreihen gerade. Etwas zwischen sehr großer Schulaula und sehr einfachem Kirchensaal. Nur Wände und Decke blubbern dank Herrn Toyota (dem Chefakustiker, für hervorragende Hörbarkeit jeder Note in der Elphi zuständig). Und das in, na ja, warmem Braun. Es erinnert sehr an Käsefondue in der Phase des  Blasenwerfens…

Aber sobald das Licht wechselt und die bis jetzt unsichtbare Fondue-Tür an der rechten Seite öffnet, treten nicht nur die Musiker mit ihren Instrumenten herein, sondern tritt auch der hervorragende Geschmack der Architekten zutage: die bisher acht mattschwarzen Notenpulte erstrahlen silbern. Die blubbernde Hinterwand fängt an zu pulsieren. Auf diesem Hintergrund erscheinen die ausnahmslos schwarz gekleideten Musiker wie Scherenschnitt-Silhouetten. Es ist ein Wimpernschlag, aber einer der eindeutig besagt: „wir glauben an Gott, der in der Musik wohnt, und sein Haus hier soll ihrer würdig sein.” Danke! Hervorragend gelungen, das Licht- und Farbenspiel.

Jetzt ein Aufruf an die Windjacken-zum-ersten-Mal-im-Konzertsaal-Fraktion: Bitte warten Sie, bis die Hiesigen anfangen zu klatschen! Dann sind Sie hier richtig! Im Felde (angreifen oder weglaufen) und im Konzertsaal hat die Mehrheit immer recht. Geklatscht wird am Ende des Stückes und nicht am Ende des ersten oder zweiten Teils, genannt “Satz”. Der Kauf des Programmheftes (ein Euro) hilft da sehr. Alle “Sätze”, also Teile des jeweiligen Stücks sind dort aufgeführt. 

Wir hörten vier Stücke für Bläseroktett, zwei von Ludwig van Beethoven und jeweils eins von Mozart und einem Herrn Svend Simon Schultz (1913-1999). Wie der sichtlich von Lampenfieber geplagte, aber sehr sympathisch wirkende junge Mitarbeiter der Elbphilharmonie, Felix Dieterle erklärt, handelt es sich bei allen Stücken um sogenannte Harmoniemusik aus der Zeit der Wiener Klassik (18. Jahrhundert). Bitte googeln.

Im Falle des Bläseroktett-Konzerts ist es ratsam, sich erst schlau zu machen. Das zu Anfang gespielte „Rondino“ (der kleiner Bruder von Rondo) von Beethoven (1770-1827) erscheint erst dann verständlich und weniger ungelenk, wenn man weiß, dass der junge Ludwig v. B. als erstes Instrument das Horn spielen gelernt hatte und es deshalb gerne in seinen Kompositionen einsetzte. Hier kommen ein Natur- und ein Ventilhorn sehr oft und verwirrend spröde zum Einsatz. Das erfuhren wir im Gespräch zwischen Felix Dieterle und zwei jungen Hornisten kurz vor der Pause: Jonatan Wegloop (Niederlande) und Pascal Deubner (Schweiz). Sie spielten jeweils ein paar Töne auf Natur- und Ventilhorn – ein Riesenunterschied und ein kleines Stück Instrumentengeschichte. Ich begrüße diese informativen Gespräche sehr. Wenn schon Windjacken-Fraktion, dann bitte auch ein bisschen Fachchinesisch für alle. Nicht jedem ist es gegeben, mit drei Jahren in die symphonische Musik eingeführt zu werden. 

A propos jung: das Oktett wirkt unverschämt jugendlich und trotzdem professionell. Bis auf ein paar Verständigungsschwierigkeiten in den ersten Minuten von Beethovens Rondino Es-Dur war das Niveau des Spiels hervorragend. Nicht zuletzt dank der sehr diskreten Führung von Christian Seibold, der seine Küken sichtlich stolz und liebevoll hinein- und hinausdirigierte. Es ist jedes Mal ein Genuss zu beobachten, wie Musiker miteinander mittels Phrasierung und Körpersprache kommunizieren. Denn – wie immer bei der Kammermusik – gibt es keinen echten Dirigenten. Daher sei hier wieder mal gesagt: live is live. Eine technische Wiedergabe beraubt uns gänzlich dieser subtilen Eindrücke. 

Zuweilen wirkte allerdings die  Begrenztheit auf Blasinstrumente  ermüdend. Also stellte ich mir vor, dass ich im 18. Jahrhundert auf den Wiener Wiesen den Klängen eines Oktetts lausche. Die Musiker stehen im Gras, Vögel zwitschern, Wolken wandern über den Himmel. Aushaltbar. Und dann – wie von der Zauberhand –, natürlich wieder bei Mozart, reift dieses spröde Oktett aus Holzrohren und menschlicher Atemluft zu einem veritablen Orchester. Musiker, sichtlich beflügelt, geben alles. Manche nur durch den Atem, andere in die Knie gehend wie Herr Seibold. Die ewige Magie der Musik erfasst uns alle, bis auf die, die eingeschlafen sind. Vom König Fußball gezeichnet nickt man schon mal bei der Sonntagsmesse aber auch im Kleinen Saal der Elbphilharmonie ein.

In der Pause zeigt der vor einer Stunde noch in Dunst gehüllte Hamburger Hafen sein so wechselhaftes, aber immer interessantes Gesicht. Diese Lage des Konzerthauses ist ein Segen. Man bekommt so viel zu sehen. Es reicht nicht einmal ein Jahr lang täglich drei Mal Elphi, um alle Bilder Hamburgs in sich aufzunehmen. Manchmal beneide ich die Zugereisten: Sie sehen Hamburg oft zum ersten Mal und gleich aus dieser atemberaubenden Perspektive! Der Kontrast zwischen drinnen und draußen mit der gewölbten Plexiglaswand dazwischen könnte nicht größer sein.

Die für alle offene Plaza war trotz sehr wechselhaften Wetters gut besucht. Kaum ein Durchkommen, viele Kinder jeglichen Alters, Fußballfans, tapfer die Nase in den Wind steckend – eine herrliche Mischung aus Tourismus und Kultur. Das eine befruchtet ja das andere. Ohne den Anspruch, die Welt nach Hamburg zu holen, wäre der Budgetposten „Philharmonie von Weltrang“ nie Wirklichkeit geworden. 

Nach der Pause hörten wir ein Divertimento für Bläseroktett des mir völlig unbekannten Dänen Svend Simon Schultz (1913-1998). Groß, laut, streckenweise atonal, an Beethoven und Mozart anknüpfend – das Musikstück hinterließ bei mir keinen bleibenden Eindruck. Tut mir leid. Ich kann nicht zaubern… schwarzes Loch. Wahrscheinlich zu viel frische Hamburger Luft. Vielleicht auch, weil das ominöse, aus meinem Gedächtnis verschwundene Divertimento keine Tonlage besitzt. 

Last not least: Die Parthia Es-Dur op. 103 von Beethoven wurde zum Meisterstück für die jungen Blasinstrumente-Profis. Munter, beschwingt, aber nichtdestotrotz stimmig und sauber eilten sie zum Finale presto. Sehr presto, sehr final. Nach mehreren nett gemeinten, aber vergeblichen Versuchen die Künstler zu einer Zugabe zu bewegen, gingen wir beschwingt hinaus. Hamburg überrascht immer wieder: auf einmal gab es Sonne! Wie auf den Wiener Wiesen vor 230 Jahren zu Zeiten der Wiener Klassik und Harmoniemusik…

Teresa Grodzinska, 25. Juni 2018,
für klassik-begeistert.de

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