Hier ist er endlich, der lang ersehnte Verhaltenskodex für das 21. Jahrhundert. Für Köln und anderswo.
von Brian Cooper, Bonn
Du hast eine Karte für ein klassisches Konzert erworben? Glückwunsch! Damit erwirbst Du das Recht, Dich für die Dauer des Konzerts so zu verhalten, wie Du möchtest. Denn Du bist einzigartig! Und das sollen die Anderen auch finden!
Nach Jahrzehnten genauester Beobachtung habe ich in mühevoller Kleinarbeit ein paar Punkte für Dich zusammengetragen. Hier findest Du sie nun: 33 nützliche Hinweise, die Dir helfen sollen, das „Event“ vollständig zu genießen.
- Nicht das Wandern ist des Müllers… Nein, das Husten ist des Konzertfreundes Lust! Und im Konzertsaal ist es oberste Bürgerpflicht. Auch wenn Du gar nicht husten musst: Lass die Bröckchen fliegen!
- Benutze dabei weder ein Taschentuch noch Deine Armbeuge, denn Geräuschunterdrückung ist was für schlecht erzogene Feiglinge. Nutze die leisesten Stellen und Generalpausen für ein selbstbewusstes „Hier bin ich! Hört mir zu!“
- Nach einem langen Kopfsatz, etwa von Mahler, Schostakowitsch oder Bruckner, falle ein in das allgemeine Rudelhusten. Vielleicht beginnst Du schon damit, während der Dirigent noch die Hände oben hat. Dann bist Du einmal mehr die Nummer eins!
- Falls es mit dem Husten nicht auf Anhieb klappt, hier ein hilfreicher Hinweis aus dem method acting: Versetze Dich in die Lage eines Erstickenden. Dann klappt das schon.
- Zu spät gekommen? Keine Angst, das Saalpersonal ist über die Jahre lockerer geworden und lässt Dich rein, wann immer Du willst. Die Zeiten, da man bis zu einer geeigneten Pause auf den Einlass zu warten hatte, sind längst vorbei.
- Lasse Deine Funktionsjacke an, wenn Du reingehst. Du kannst sie am Platz ausziehen. Mach das unbedingt langsam, umständlich und geräuschvoll. Dann haben alle etwas davon.
- Wichtig ist aber zunächst unbedingt, dass Du Deinen vorgesehenen Platz einnimmst. Den in der Mitte der Reihe. Setze Dich keinesfalls bis zu einer geeigneten Unterbrechung irgendwo nach hinten an den Rand, sondern lass die Leute für Dich aufstehen. Sie tun das gerne für Dich. Am liebsten während des Konzerts.
- Während Du Deinen Platz aufsuchst, unterhalte Dich laut flüsternd mit Deiner Begleitung. Benutze dabei viele S- und Zischlaute. Konzertsäle haben gemeinhin eine gute Akustik. Du wirst staunen, wie weit Deine Stimme trägt, auch wenn Du nur flüsterst!
- Wenn zwei Minuten vor Konzertbeginn zehn Leute extra für Dich aufstehen müssen, damit Du zu Deinem Platz kommst, bedanke Dich nicht. Das gehört sich nicht. Laufe stumm und stumpf an ihnen vorbei, und schau grimmig drein wie ein Bonner. (Bonn ist ehemalige Bundeshauptstadt und derzeitige Hauptstadt der Grimmigkeit und schlechten Laune. Fröhliche Rheinländer? Fake News!)
- Führt Eure Unterhaltung während der Darbietung ungeniert fort. Stellt Euch einfach vor, Ihr seid noch im Café von vorhin, wo Deine Süße Dir diese kleine Schmutzigkeit ins Ohr geflüstert hat. Neigt immer wieder Eure kecken Köpfchen zueinander und sagt einander alles, was Euch gerade durch selbige geht. Die Pause ist dafür zu kurz; das Gedächtnis auch.
- Nimmst Du Tabletten? Das tut mir leid. Mach das Beste daraus: Warte damit nicht bis zur Pause, und nimm sie schon gar nicht ein, bevor Du den Konzertsaal betrittst, sondern packe den Blister erst nach Beginn des Konzerts aus. Das macht vielleicht Freude! Die dankbaren Blicke um Dich herum werden das bestätigen. (Barbers Adagio etwa ist hervorragend für die Tabletteneinnahme geeignet.)
- Öffne bitte möglichst oft geräuschvoll Deine Handtasche. Hast Du alles rausgeholt, was Du brauchst? Dann mache die Tasche geräuschvoll wieder zu. Hast Du etwas vergessen? Dann mach sie wieder auf. Und wieder zu. Immer wieder. Immer mit Geräusch. Fein!
- Auch Reiß- und vor allem Klettverschlüsse sind im Konzert stets eine willkommene akustische Bereicherung.
- Blättere während der Darbietung eifrig im Programmheft. Besonders die Künstlerbiographien sind eine spannende Lektüre, die nicht warten kann.
- Das Programmheft kostet Geld? Drucke es Dir bequem zuhause aus und raschele nach Herzenslust mit Deinen DIN A4-Blättern.
- An heißen Tagen kannst Du Dir mit Deiner Eintrittskarte Luft zufächeln.
- Du hast lange für Deinen Wein angestanden, und nun ist die Pause zu kurz? Kein Problem! Nimm Dein Glas mit in den Saal, und setze es auf dem Boden ab. Stoße es aber bitte erst um, wenn es leer ist.
- Wenn Du mit Deinem Schmachtfohn filmen möchtest, freuen sich nicht nur die Empfänger Deiner Filmclips, sondern auch die Ausführenden auf der Bühne. Ein Platz in der ersten Reihe ist zu diesem Zwecke erstrebenswert.
- Auf der Bühne kannst Du dann auch Dein Programmheft ablegen. Oder Deine Füße.
- Wenn Du Fotos machst, achte darauf, dass das Klickgeräusch Deines Schmachtfohns eingeschaltet ist. So bekommen es noch mehr Leute mit als ohnehin.
- Natürlich kannst Du Deine Fotos gleich im Anschluss versenden.
- Bei der Gelegenheit kannst Du noch kurz Deine Mails checken. Und Deinen Insta-Account.
- Vielleicht magst Du noch etwas bei Amazon bestellen, weil Du tagsüber nicht dazu gekommen bist? Diese geilen Alufelgen zum Beispiel haben jetzt einen Hammerpreis.
- So ein Konzert ist lang. Wenn Du Hunger bekommst, pack Deine Brote und gekochten Eier aus. Magst Du Époisses? Sehr gut.
- Verspürst Du Durst, trinke immer sofort. Warte nicht bis zur Pause. Die sofortige Befriedigung aller körperlichen Bedürfnisse und Triebe ist gerade für Erwachsene eminent wichtig. Und trinke Wasser bitte nur aus der Plastikflasche. Das macht soooo schöne Geräusche!
- Trage knarzende Lederschuhe, mit denen Du den Sitz des Menschen vor Dir traktierst. Er oder sie soll seekrank werden!
- Habt Ihr das Glück, eine Zugabe zu erleben, deren Titel nicht angekündigt wurde, teile Deiner Begleitung noch vor dem dritten Takt mit, dass Du das Stück erkannt hast, um welches Stück es sich handelt, von wem es stammt und was der Komponist am Tag der Niederschrift gegessen hat. Flüstere so laut, dass alle Menschen um Dich herum sofort erkennen, wie gebildet Du bist.
- Dein Zug kommt gleich? (Ha! Wer’s glaubt…) Nur zu: Verlasse den Saal, noch bevor alle Anderen es tun. Und hier noch die Kür, die Tschällentsch: Falls Du das Stück kennst, verlasse Deinen Platz so, dass nur noch ein Takt gespielt wird, wenn Du die Tür erreicht hast. Der Applaus ist Dir sicher.
- Vergiss bitte nicht, mit jeder Stufe, die Du beim Hinausgehen erklimmst, Deine beringte Hand immer wieder ans Metallgeländer zu legen. Das macht so subtile Geräusche, die insbesondere am Ende von Mahlers Neunter eine einzigartige Wirkung zeitigen. Hätte Mahler das gewusst, hätte er das in seine Partitur mit eingebaut. So sorgst Du für eine zeitgemäße Version, die keiner je so gehört hat (in der Fachsprache nennt man das Aleatorik).
- Auch vorzeitige Bravorufe sind für das Ende von Mahlers Neunter einfach perfekt geeignet.
- Falls Du zu spät ans vorzeitige Gehen gedacht hast, springe beim letzten Ton auf, und gönne dem Orchester Deine walking ovation. In Köln bist Du damit nicht allein. In der Philharmonie nicht, und auch nicht in Müngersdorf, wenn der Effzeh mal wieder in der 90. Minute null zu [hier beliebige Zahl einsetzen] zurückliegt. Vergiss also zumindest in der Philharmonie nicht, beim Rausgehen noch ein paarmal halbherzig zu klatschen. Der Applaus ist schließlich das Brot des Künstlers. Und Brot ist sehr lecker, wie Du ja weißt.
- Du möchtest den Intendanten der Kölner Philharmonie auf kurzem Dienstweg kennenlernen, ohne lang in irgendeinem Vorzimmer zu warten? Dann warte ausnahmsweise bis zum Schlussapplaus, hol Dein Teleobjektiv raus und begebe Dich langsam an Reihe 17 vorbei in Richtung Bühne. Du wirst sehen, er wird Dich kennenlernen wollen und Dir hinterherlaufen!
- Der 33. Punkt schließlich ist ganz Deiner Kreativität vorbehalten. Hast Du die obigen Punkte beherzigt, bist Du schon richtig vielversprechendes Paris-Material. Halt Dich ran, sei kreativ, und bereichere das Konzertleben auch hierzulande mit Deinen Ideen! Wenn ich mir Punkt 25 nochmal genauer anschaue, das mit den Trieben, dann fällt mir ein, dass es hinter der Orgel ein lauschiges Plätzchen geben könnte, wo Ihr…
Aber nun genug. Du sollst ja schließlich auch noch Deine Ideen einbringen. Dir und allen Mitmenschen wünsche ich ein unvergessliches Konzerterlebnis! Unvergesslich wird’s allein deshalb, weil Du ja die schönen Filmclips und Fotos gemacht hast.
Dr. Brian Cooper, 28. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lieber Dr. Cooper,
prima, die Hinweise kommen gerade noch rechtzeitig zur heutigen Premiere von La Clemenza di Tito an der SOH. Da sind ja viele wichtige Leute und wir werden alle Punkte beherzigen. Im Detail sind wir aber nicht ganz einverstanden:
@3: Wenn Du gerade nicht husten kannst, fang einfach an zu klatschen. Das funktioniert eigentlich nach jedem Satz einer Sinfonie ganz gut, so kannst Du Dich prima selber feiern. Tipp: Besonders geeignet ist das Allegro molto vivace von Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6, nach Deinem Einsatz hat dann keiner mehr Freude an den leisen Tönen des Finale, dem Adagio lamentoso – Andante.
@ 15: So ein Ausdruck kostet auch ’ne Stange Geld. Du kannst daher alternativ während der Vorstellung nach dem Programmheft Deines Nachbarn grabschen und dabei laut und deutlich sagen: „Ich darf’ doch mal…“ Share Economy sozusagen.
@20: Gerade in der Oper ist es zuweilen recht dunkel. Beim Filmen und Fotografieren unbedingt sicherstellen, dass Du das Blitzlicht aktiviert hast.
@26: Alternativ, wenn Du einen Randplatz ergattert hast, kannst Du auch die Beine lässig und ausladend übereinander schlagen. Das ist super bequem und der vor Dir Sitzende sieht auch gleich, welche schicken Sneaker Du aus Anlass des „Events“ angezogen hast.
Herzlichst
Regina
Ich weiß schon, warum ich meine CD-Sammlung mehr liebe als „den besten Konzertsaal“.
Stefan Henze
Lieber Brian,
für diese so kulturrelevanten Punkte möchte ich Dich küssen und herzen! Ich hätte allerdings noch einen anzufügen:
Hast Du Kinder, möglichst noch sehr kleine ohne Interesse an klassischer Musik? Bringe sie ohne Vorbereitung zuhause in das Konzert mit oder besser noch: versprich ihnen einen spannenden Vormittag oder Abend mit jeder Menge kindgerechtem Spaß – lüge sie nach Möglichkeit an, damit sie lernen, mit falschen Hoffnungen umzugehen!
Am besten schleppe sie in ein Konzert mit Werken von Schostakowitsch, Berg oder Webern. Die Kleinen sollen wahrnehmen, dass nicht alles im Leben einfach ist. Hindere sie aber nicht, während des Konzerts zu maulen, sich hin- und herzufläzen, auf ihrem Daddelgerät herumzuspielen und alle anderen an ihrer jungen Vitalität teilhaben zu lassen. Je mehr Bewegung, desto besser, dann bekommen das auch die Leute im restlichen Saal und auf den Rängen gegenüber mit. Sie werden dadurch angeregt, ihre wertkonservativen Vorbehalte abzulegen und es Dir beim nächsten Mal nachzutun.
Kinder mögen es nicht, wenn man ihnen Respekt vor anderen Leuten oder kulturellen Darbietungen beibringen will – verlasse Dich auf die guten alten Missverständnisse der antiautoritären Erziehung und verwechsle Freiheit mit Zügellosigkeit. Nur so erreichst Du, dass Deine Kinder beispielsweise erfolgreiche Manager oder Wirtschafts-Lobbyisten werden oder einen anderen Beruf erlernen, bei dem es darum geht, die eigenen Interessen über die aller anderen zu stellen.
Rechtfertige Dich gegenüber Leuten, die sich beschweren, damit, dass man nicht früh genug anfangen kann, Kindern anspruchsvolle Musik nahezubringen, auch wenn sie nicht die geringste Lust dazu haben. Verschweige Deine wahren Beweggründe – nur so haben auch Kevin-Kimberlie oder Justin-Schackline irgendwann das Zeug, zu einem First-Class-Politiker wie Trump zu werden!
Wähle für einen Besuch mit Deinen Kindern am besten die Hamburger Elbphilharmonie, denn dort herrschen die optisch und akustisch besten Verhältnisse, damit wirklich ALLE, Orchester, Dirigent und Solisten, etwas davon haben!
Dr. Andreas Ströbl
Ergänzend zu Punkt 18: Schalte beim Filmen unbedingt dein Kameralicht ein. So ein Konzertsaal ist häufig schlecht ausgeleuchtet, die Mitwirkenden und eventuell gegenüber sitzende Zuhörer werden dir danken.
Johannes Groos
Sehr geehrter Herr Dr. Cooper,
sehr geehrte p.t. Vorposter*innen,
als Klassik-Heavy-User habe ich auch schon oft Quassler angezischt und mich über Bonbonpapiere und Pillen-Alarme genervt. Genauso bin ich schon für Programmheftgeraschel und meine Körpergröße gemaßregelt worden.
Vielleicht tun wir alle gut daran, uns an einem anderen klassischen Regelwerk in Listenform zu orientieren: der „Anleitung zum Unglücklichsein“ von Paul Watzlawick. Dann können wir uns über enthusiastische 3. Satz-Pathetique-Klatscher freuen, über zerstreute Zuspätkommer schmunzeln und uns generell glücklich schätzen, dass die Klassik ein vielfältiges Publikum anzieht.
Natürlich dürfen wir uns auch weiterhin ärgern, das gehört zum Menschsein, soll uns aber nicht definieren.
Hochachtungsvoll
Dr. Maximilian Doppelbauer
Oh, wie herrlich, na da merkt man aber, wer häufiger in Köln zu Gast ist. Wenn ich den Beitrag lese, dann habe ich aber auch schon sehr gestandenes „Pariser“ Publikum miterlebt.
Ein paar Ergänzungen habe ich noch:
x) Stelle sicher, dass dein Handy jederzeit angeschaltet und der Klingelton auf höchster Lautstärke steht. Ideal sind vor allem Tiergeräusche, wie Krähenrufe, Grillenzirpen oder Katzenmiauen. Aber es tun auch Retroklingeln und Sirenenlaute. Schließlich will doch der ganze Saal mitkriegen, wenn endlich Tante Ulrike anruft und ihren neuesten Tratsch teilen will.
x) Alternativ tut es auch ein Hörgerät oder Blutdruckmesser mit fast leeren Batterien, deren rhytmisches Fiepen schon so manch eine Aufführung bereichert hat. Die gerade auch dadurch entstehende Polyrhythmik gilt heutzutage doch als modisch im Konzertsaal.
x) Wenn man schon das Geld für das Programmheft sparen möchte, warum dann nicht auch gleich für den Ausdruck? In unseren digitalen Zeiten kann man sich doch inzwischen alles auf das Smartphone laden und dann jederzeit während der Vorstellung lesen. Bitte aber das Display auf volle Leuchtstärke stellen. Alle Nachbarn möchten doch schließlich mitlesen.
x) Ausschlafen ist für Weicheier. Und das Publikum samt Orchester wird es danken, wenn man ihnen noch während der Vorstellung durch lautes Schnarchen mitteilt, wie entspannend die Vorführung doch ist!
Hoffe, das sind ein paar gute Ergänzungen 😉
Vielen Dank für diesen tollen Beitrag!
Daniel Janz
Ich hätte zu auch noch zwei Regeln hinzuzufügen:
Um darzutun, wie musikalisch du bist, dirigiere stellenweise von deinem Sitzplatz aus mit. Mit möglichst ausladenden Bewegungen, so dass alle sehen können, dass du was von der Musik verstehst. Deine Sitznachbarn werden dich bestimmt bewundernd anschauen. Gerne kannst du dazu auch noch ein bisschen summen.
Und: Wenn du aufs Klo musst, brauchst du nicht bis zur Pause zu warten. Mach es wie im Kino, geh einfach raus, und wenn du fertig bist, kehrst du auf deinen Platz zurück. Jeder in deiner Reihe wird sicherlich verständnisvoll aufstehen, damit du den Bauch nicht extra einziehen musst.
Kirsten Liese
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