"Warum ich nie wieder die Philharmonie de Paris betreten werde"

„Warum ich nie wieder die Philharmonie de Paris betreten werde“  klassik-begeistert.de, 10. Januar 2023
Wäre es nicht tatsächlich besser, wenn man einfach nur zuhause mittels exquisiter Stereoanlage oder magischer Kopfhörer seine Konzerte hörte?
Aber wir brauchen doch das Live-Erlebnis!

 

Fotos: Dr. Brian Cooper

Paris, der große Traum, ist ausgeträumt. Ich wollte dort der Kultur wegen hinziehen. Aber in der noch immer recht neuen Philharmonie, im traditionsreichen Théâtre des Champs-Elysées und anderswo in der französischen Hauptstadt verhindert das Publikum aktiv durch exzessiven Handygebrauch und etliche andere Unsitten jegliche Magie im Konzert. Das Saalpersonal bestärkt auch noch die mangelnde Disziplin. Sogar höchste Würdenträger der Pariser Kulturszene beteiligen sich daran. Hier gilt nicht come as you are, sondern come when you’re ready. Und auch bei uns wird es nicht besser: Ähnliches Fehlverhalten schleicht sich ein und wird nur unzureichend sanktioniert. Da stellt sich mir zum Jahresbeginn eine grundsätzliche Frage: Wie lange werde ich wohl noch Livekonzerte besuchen?

von Dr. Brian Cooper, Bonn

Paris ist eine wundervolle Stadt. Eine der schönsten und aufregendsten Städte der Welt. Das ist ein Allgemeinplatz – stimmt. Aber er ist so wahr. Nur Deppen, wie man sie in Bayern nennt, würden das bestreiten. So Leute, wissen Sie, die für keinerlei Form der Sinnlichkeit empfänglich sind – sei sie kulinarisch, architektonisch, interkulturell, multiethnisch, intellektuell, zwischenmenschlich, ästhetisch, sexuell oder wie auch immer geartet. Wir kennen sie alle, diese Leute. An allem haben sie zu kritteln. Der Lärm, die Hektik, keine Brötchen wie bei uns, der Dreck…

Aber es ist eben ein Pariser Dreck, und der wird von Wasserwagen und balayeurs morgens um vier entfernt. Das ist, zugegeben, normalerweise nicht meine Zeit, aber ab und an kommt es vor, dass man nach einer Party zu Fuß nach Hause läuft, innerhalb der nur etwa vierstündigen Zeitspanne (Weltstadt eben), da weder métro noch Busse fahren, und dann befindet man sich auf einmal in dieser magischen blauen Stunde zwischen Zubettgehen einerseits und dem Aufwachen der Metropole andererseits.

Und auch der Lärm ist auszuhalten, selbst für extrem Lärmempfindliche wie mich, sofern man die richtigen Fenster hat. Ob die Deppen jemals ein gutes Baguette – immerhin seit November 2022 immaterielles Weltkulturerbe – oder ein croissant au beurre gekostet haben? Sollen sie doch nach Düsseldorf oder Zürich ziehen, die ewig Mäkelnden, wo übrigens auch nicht alles so sauber geleckt ist, wie es zunächst den Anschein hat, schaut man genauer hin. Stadtmenschen können und müssen das aushalten. Sonst muss man halt in den Wald ziehen, und dort stören einen dann wahrscheinlich die Tiere. Und wer die Kohle hat, sich im Kölner Rheinauhafen in eine sündhaft teure Kranhaus-Wohnung einzumieten, darf auch mit Geräuschen und Abgasen von Schiffen rechnen, potzdonner! (Das musste allen Ernstes erst ein Gericht bestätigen. Wer’s trotz stetig schwindender Lebenszeit nachlesen will: Aktenzeichen 223 C 26 /11.)

Von 2001 bis 2003 habe ich in Paris gelebt, und abgesehen von einem menschlich wie kulinarisch fantastischen Erasmus-Jahr in Bilbao zur Jahrtausendwende, das mir – neben der durchaus fehlbaren, aber insgesamt großartigen Erfindung EU – meine alma mater, University College Dublin, ermöglicht hatte, zählen die Pariser Jahre zu den glücklichsten meines Lebens. Auch für jene Jahre habe ich meiner Uni zu danken, denn es gab ein Austauschprogramm zwischen lectrices und lecteurs mit der Sorbonne.

Ich bin ein Stadtmensch. Ich brauche Hochkultur und wollte für immer in Paris leben, nachdem ich einmal vom Nektar dieser Stadt gekostet hatte, und zwar als der europäische Weltbürger, für den ich mich ganz unbescheiden halte. Ich habe mich Mitte der 2000er immer wieder auf Stellen beworben, die sich später als so erbärmlich schlecht bezahlt herausstellten, dass ich den Traum immer wieder verschob und letztendlich verwarf. (Kleine Bitte an die Rekrutierer, die sich so unfein-menschenverachtend als Human Resources (HR) departments bezeichnen: In den Ausschreibungen bitte erwähnen, was Sie für gute Arbeit zu zahlen bereit sind. Das spart den Bewerberinnen und Bewerbern viel Lebenszeit.)

Einen Job hatte ich nach nur zwei amüsanten Telefonaten mit der charmanten Leiterin so gut wie sicher, und zwar bei einer US-amerikanischen Organisation, die sich um Studentinnen und Studenten kümmert, die, weit von zuhause weg, Orientierung benötigen, und deren Eltern dafür der Organisation über 20000 Dollar im Jahr überweisen, um ihre Kinder von der schiefen Bahn abzuhalten.

Viel mehr als 20.000 – Euro diesmal, brutto, und jährlich, nicht etwa monatlich, wo denken Sie hin, ich bitte Sie – warf die Stelle auch nicht ab. Es wäre nicht möglich, den eigenen Kindern dasselbe Privileg zu bieten und dann auch noch Essen und Miete zu bezahlen. Wie soll das gehen? Erben, lautet wohl die Devise, bei Pariser Quadratmeter-Kaufpreisen von durchschnittlich 10000 Euro – zumindest, wenn man halbwegs mittelständisch-komfortabel und nicht in einer Bruchbude hausen will. Oder man verkauft seine Seele und nimmt einen hochdotierten, aber unmoralischen Job an. (Gut, dass das damals mit dem Übersetzerjob bei der FIFA nicht geklappt hat…)

Aber das kulturelle Leben! Ich fuhr bisher mehrmals jährlich immer wieder hin, um Konzerte und Opern zu erleben.

Zum ersten Mal war ich in Paris im Ballett. Warum klein einsteigen, wenn es auch groß geht? Direkt die Weltspitze! Meine Freundin Ariane, Pultpartnerin in den ersten Geigen beim Uniorchester OCUP, seit jeher total ballettverrückt und inzwischen Ballettmanagerin am Salzburger Landestheater, stand unzählige Stunden für uns beide an, um vergünstigte Karten à la dernière minute zu ergattern. Mit dickem Filzstift durchgestrichen, 10 Euro statt 150, Karte und Programm habe ich selbstverständlich noch. Und dann konnte man in der elften Reihe im Parkett der Opéra Garnier Roland Petits Clavigo erleben, mit den étoiles Clairemarie Osta und Nicolas Le Riche.

Und dann die unzähligen Konzerte in der Salle Pleyel. Zweimal die Woche das Orchestre de Paris für kleines Geld, sofern es nicht ausverkauft war, eine Spielzeit lang dort und eine in der Ausweichspielstätte Théâtre Mogador. Es war die Ära Eschenbach. Andere Konzerte waren oft schlicht zu teuer; so hörte ich Mahler Zwo mit den Berlinern unter Sir Simon Rattle erst Jahre später in Berlin, Paris und anderswo, erinnere mich aber an die bewegten Worte unseres OCUP-Dirigenten Sébastien Billard tags darauf, er wisse ja nicht, ob jemand gestern das Glück gehabt habe, die Philharmonique de Berlin zu erleben…

Dann der Camembert. Nicht der Käse. Der auch, aber ich meine die Maison de Radio France, wo es regelmäßig kostenlose Konzerte gab. Man stellte sich einfach an, die Schlange wand sich um das runde Gebäude. Nota bene: Die Franzosen können Schlange stehen, wie die Engländer und Iren auch, hintereinander, nicht wie hier, wo die Leute oft schamlos versuchen, sich auffällig-unauffällig neben einen zu stellen, um dann den Ellbogen auszufahren, sobald sich die Schlange in Bewegung setzt.

Ich entdeckte dort unter Anderem Mozarts Zaide unter Ton Koopman, mit der engelsgleichen Stimme von Sandrine Piau, und ich wünschte mir, dass die beiden irgendwie erführen, wie sie mein Leben bereichert haben. „Ruhe sanft, mein holdes Leben“… Zaide ist ein frühes Meisterwerk Mozarts, ebenso wie Thamos, das wir übrigens mehr als passabel im OCUP spielten – ein Stück, in dem man schon den späteren Don Giovanni heraushört.

Übrigens steht OCUP für Orchestre et chœur des universités de Paris. Man liebt schließlich in Frankreich sperrige Namen. Das BRSO beispielsweise heißt Orchestre symphonique de la radiodiffusion bavaroise, so steht es auf Eintrittskarten. Nun ja. Aber ich schweife ab.

Auch im Théâtre des Champs-Elysées (TCE) erlebte ich viele schöne Konzerte und Opern, nicht zuletzt den eben erwähnten Don Giovanni, und manchmal kostete das Programmheft mehr als die Hörplatz-Karte. Am 29. Mai 2013 war ich mit meinem inzwischen verstorbenen Konzertfreund Uli dort, um den 100-jährigen Jahrestag der Uraufführung des Sacre du printemps zu begehen. Es gab in der Pause Champus aufs Haus. Gibt bessere, aber wo bekommt man schon umsonst Champagner, außer bei wirklich guten Freunden? Es war ein Fest! Wir bestaunten zunächst die ursprüngliche Choreographie Nijinskys sowie nach der Pause eine zeitgenössische von Sasha Waltz.

Ich durfte im TCE viele besondere Abende erleben, etwa Rezitale – wie man so schön in der Schweiz sagt – mit Krystian Zimerman und Evgeny Kissin, der seinen Abend damals mit Schuberts D 960 begann (!) und schon nach einem Takt das unruhige Publikum zum Schweigen brachte.

Die beiden gegenüberliegenden Traditionshäuser Théâtre du Châtelet und Théâtre de la Ville besuchte ich auch, sehr häufig vor allem das erstgenannte Haus, wo ich eine Achte Bruckner mit dem Cleveland Orchestra unter Christoph von Dohnányi (6. Juni 2002) und eine Vierte Schostakowitsch mit dem Mariinsky unter dem inzwischen zu Recht geschassten Valery Gergiev in bester Erinnerung habe (31. Januar 2003), der übrigens auch dasselbe Orchester 2013 im TCE dirigierte. Grandiose Aufführungen allesamt, ich habe selbstredend auch hier noch die Programmhefte. Die Gergiev-Aufführung vor 20 Jahren wurde am leise ausklingenden c-Moll-Ende durch ein Handyklingeln zerstört.

Womit wir beim Thema wären.

Die Erfahrungen der letzten Jahre in Pariser Konzerthäusern waren musikalisch größtenteils herausragend. Dafür reist man gerne weit. Aber die äußeren Umstände waren umso schlimmer.

Der Grund, warum ich überhaupt bei Klassik begeistert gelandet bin, war ein langer Kommentar, zu großen Teilen zum Thema Philharmonie de Paris, unter einem Artikel meines geschätzten Kollegen Patrik Klein. Jener Beitrag veranlasste den Herausgeber dazu, mich zu bitten, weitere Beiträge zu verfassen. Ich erlaube mir an dieser Stelle, ein paar Absätze zu zitieren:

„Herzlichen Dank, Herr Klein, für diesen Artikel, der mir wirklich aus der Seele spricht. Gerade die Elbphilharmonie, wo man von jedem Platz aus wirklich alles hört, hat eine im Grunde zu gute Akustik für das Publikum unserer Tage.

Ich lebe im Rheinland und reise sehr weit, um großartige Orchester zu hören, quer durch Europa von Amsterdam bis Luzern und von Berlin bis Paris, habe aber immer weniger Freude daran, was durchaus nicht an den Bands liegt…

Das schlimmste Publikum, abgesehen von den ‚Hustern von Köln‘, erlebe ich in Paris, wo Magie – diese Stille, wenn 2000 Menschen den Atem anhalten – nicht mehr möglich ist. Hier eine Auswahl der letzten zwei Jahre, ich habe das wirklich alles erlebt, glauben Sie mir:

Zur Routine bei jedem Konzert gehört regelmäßiges Zuspätkommen, das von der Philharmonie de Paris übrigens auch noch gefördert wird, indem am Rand Sitzende gebeten werden, in die Reihe zu rücken, denn es könnte ja sein, dass noch jemand kommt; dauernd werden Smartphones hervorgekramt und umständlich wieder verstaut (diese Prozedur wiederholt sich bei manchen Leuten alle zwei Minuten, und gerne wird zwischendurch auch eine Nachricht abgesetzt); Zeitungen werden gelesen; ein Rotwein wird auf- und dann eingeschraubt; geräuschvoll wird Wasser aus Plastikflaschen getrunken; der überdimensionierte Rucksack wird umständlich zum Kopfkissen umfunktioniert, damit man sich genüsslich, halb liegend, über zwei Reihen fläzen kann und dann ein Buch herausholt (immerhin); Tabletteneinnahme in Takt 2; hemmungsloses Knutschen; und und und. The list is endless. Gut, vieles davon gibt es auch bei uns, aber den Rotwein und die Zeitung habe ich anderswo bisher noch nicht erlebt.

Warum schaffen es mehr und mehr Menschen nicht, pünktlich zu erscheinen, ihr Handy auszuschalten und zwei Stunden lang den Mund zu halten und konzentriert zu lauschen? Das kann ein sehr besonderes Gefühl ergeben, das man zuhause – allein – nicht erleben kann. Stattdessen beugen sie sich zueinander, um einander mitzuteilen, dass sie das Stück erkannt haben. Oder sie unterhalten sich ungeniert, als wären sie im Café.

Vielleicht ist auch die rasante technologische Entwicklung ein Faktor, der zu dieser bedauernswerten Entwicklung beiträgt. Mir egal.

Es gab da mal einen Moment, ebenfalls mit Yannick, wo Lisa Batiashvili durch ihr berückendes, intensives Spiel das Kölner Publikum in der Kadenz des 3. Satzes von Schostakowitschs Erstem Violinkonzert derart in ihren Bann zog und zu einem Schweigen brachte, dass es tatsächlich komplett still war. Diese magische Stille wurde leider prompt durch einen Rollkoffer zerstört, der über das Dach der Philharmonie gezogen wurde. (Das Dachproblem in Köln, dieser denkmalgeschützte Schildbürgerstreich, wird wohl nie gelöst werden. Bei den meisten Leuten regnet es rein, dort hallt es rein.)

Nie vergessen werde ich Mahlers Neunte mit Claudio Abbado, 2009 in Luzern. Schweigen. Stille. Endloses Verhallen. Fast zwei Minuten, eine Ewigkeit. Vermutlich das letzte Mal in meinem Leben.

Was mich fast noch mehr betrübt als diese unerfreulichen, konzertverderbenden Erlebnisse ist dies: Ich kenne viele Menschen, die meinen, wir sollten uns nicht so anstellen. Die Crux dabei: Sie denken, sie könnten überall alles tun. WIR hingegen haben nur diesen einen Ort, an dem eine kollektive Stille möglich ist, die ebenfalls zur aufgeführten Musik gehört.

Es erinnert an den Ruhebereich im ICE, den wohlgemerkt einzigen Ruhewagen, in dem sich Menschen ausbreiten, die ein halbes Dutzend anderer Wagen zur Verfügung hätten, um zu telefonieren oder sich laut zu unterhalten. Wir haben nur den einen Platz, und der wird uns genommen.“

Im TCE spielte am 10. April 2022, sonntags um elf, der englische Pianist Benjamin Grosvenor. Ihn wollte ich schon immer hören, hatte mich unbändig darauf gefreut. Freie Platzwahl, der Saal füllte sich merklich vor dem Konzert, ich zog weiter nach oben, um möglichst in Ruhe die Darbietung zu genießen. Als es losging, stellte sich meine Platzwahl jedoch als denkbar schlecht heraus, denn ein Geschwisterpaar, ca. fünf und sieben Jahre alt, zog es vor, den kompletten Balkon durch Gespräche und wildes Herumlaufen zu nerven. Offenbar hatten die Eltern ihre Kinder nicht auf das Ereignis vorbereitet – und das, wo sich doch französische Kinder laut Klischee angeblich so vorbildlich in der Öffentlichkeit verhalten sollen. Der Vater saß abseits und wollte offenbar nichts mit ihnen zu tun haben; weder er noch die Mutter kamen anderthalb Stunden lang auf die Idee, Bruder und Schwester mal zu separieren. Das Konzert war sicher gut, aber für viele Menschen nicht zu genießen.

 

Danach ging’s ab in die Opéra Bastille, 14 Uhr, Cendrillon von Massenet. Nicht viel besser. Die Aufführung war zwar sehr gut, und meine Landsfrau Tara Erraught in Topform, ein opulentes Bühnenbild gab es auch, aber schon wieder Handys allenthalben, gestörter Kunstgenuss.

Am 6. und 7. September 2022 dann ein weiterer Parisbesuch, auf dem Programm diesmal zwei Konzerte mit dem Philadelphia Orchestra unter Yannick Nézet-Séguin. Die großen amerikanischen Orchester geben ja gern mal gleich zwei Programme, wenn sie in Paris oder Wien sind. Am ersten Abend machte meine Begleiterin eine vor ihr sitzende Zuhörerin höflich darauf aufmerksam, dass sie das Konzert hören wolle und Handygedaddel doch einigermaßen störend sei. Darauf ein feindselig gezischtes „Va te faire foutre“ (wer das noch nie gesagt bekam: Google is your friend) plus Mittelfinger.

Am zweiten Abend zog ich, diesmal allein, wegen etlicher Störungen nach hinten, denn zu Saisonbeginn waren Konzerte auch großer Orchester nicht ausverkauft. Nach der Pause setzte sich ein Mann mit Namensschild zwei Plätze weiter neben mich, Logo der Philharmonie de Paris, ein hoher Würdenträger des Orchestre de Paris, das dort beheimatet ist. Und er spielte mit seinem Smartphone, während Yannick den Saal mit Dvořáks Siebter aus den Angeln hob. Monsieur Christian Thompson, Ihren Job als délégué artistique hätte ich mal mit Kusshand genommen. Warum verhalten Sie sich so musikfern, so unverantwortlich, so disziplinlos? Haben Sie kein Büro?

Bei uns in Köln wird es auch nicht besser. Die Blauen in der Kölner Philharmonie, wie das Saalpersonal aufgrund ihrer Kleidung genannt wird, lassen zunehmend Zuspätkommende ein – früher nach Ende eines Werks, heute gern auch mal zwischen den Sätzen. Das bedeutet zu Beginn des folgenden Satzes umständliches Jackenausziehen, Getrappel, Gespräche, schnell noch ein Foto schicken. In Köln darf man mit dem Handy spielen, solange nicht gefilmt wird. Beim Filmen und Fotografieren sind sie seit etwa 25 Jahren sehr streng. Dies versicherte mir ein langjähriger Blauer auf Nachfrage. Hat wohl was mit den Architekten zu tun. Das störende Bildschirmlicht an sich wird jedoch nicht sanktioniert.

Frei nach Thomas Bernhard ist jedoch das Pariser Publikum „das entsetzlichste Publikum der Welt“. Die Dauernutzung von Handys ist inzwischen normal, das Saalpersonal läuft herum, Zuspätkommende werden reingelassen, wann immer ihnen danach ist, wie oben erwähnt. Alles sehr störend für Zuhörerinnen und Zuhörer, die über 500 Kilometer gereist sind, um die Weltklasse zu hören, die sich auf Tournee stets auch in Paris einfindet. Die Philharmonie de Paris ist ein akustisch herrlicher Saal, sofern man viel Nachhall mag, aber Magie wird es dort niemals geben können.

Über die architektonischen Merkwürdigkeiten habe ich noch gar nicht gesprochen. Der Saal an sich – also der Ort, wo alles Wichtige stattfindet – ist ästhetisch zumindest beeindruckend. Von außen jedoch ist die Philharmonie de Paris ein ziemliches Monstrum, zumindest im Vergleich zum eleganteren KKL in Luzern, das vom selben Architekten erbaut wurde.

Aber die Foyers auf den jeweiligen Etagen sind von einer solchen Geschmacklosigkeit, dass man nur mutmaßen kann, Jean Nouvel habe nicht nur verärgert die Eröffnungsfeier boykottiert (es hatte Querelen um Geld sowie um die seiner Ansicht nach zu frühe Eröffnung gegeben), sondern sich mit der unvollendeten, schier das Auge wie Pfeile attackierenden Hässlichkeit der Foyers regelrecht an den Bauherren und -damen rächen wollen. Nicht einmal mit seinem Namen schmückt man sich noch, und das – wenn ich mich recht entsinne – auf Wunsch des Pritzker-Preisträgers selbst.

Einen Monat nach der Eröffnung am 14. Januar 2015 war ich dort, um meine beiden Lieblingsbands zu hören: die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle am 18. Februar (Mahler Zwo und ein Stück von Helmut Lachenmann – da gab’s nix zu lachen, Mann, der Kalauer sei gestattet) und zwei Tage später das Concertgebouworkest unter Mariss Jansons (Mahler 4 und Strauss). Vor dem Konzert am 20. Februar traf ich einen Berliner, der wie ich zwei Tage zuvor den Saal zum ersten Mal in Ohren- und Augenschein genommen hatte. Seine Frage an mich werde ich nie vergessen: „Finden Sie nicht auch, dass es im Foyer so aussieht wie bei einer Vertretertagung?“

Wie leben in einer glücklichen Zeit, da viele tolle neue Konzertsäle entstanden sind und entstehen. Die Elbphilharmonie und die Philharmonie de Paris sind akustische Meisterwerke. Kurz nach Eröffnung beider Säle war ich jeweils dort. Aus Neugier, und natürlich aufgrund des herausragenden Spielplans.

Werde ich meinen Vorsatz durchhalten, nie wieder die Pariser Philharmonie zu betreten? Ich traue mir selbst nicht ganz: Wenn die Jahresvorschau bald wieder ins Haus flattert, werde ich möglicherweise schwach ob des phänomenalen Angebots. Und dann doch wieder enttäuscht, wenn ich hinfahre. Zumindest die Tatsache, dass es für jedes Konzert, egal ob Boston Symphony oder Orchestre symphonique de Pusemuckel, ein Kartenkontingent zu 10 Euro gibt, ist natürlich vorbildlich und sollte auch anderswo beherzigt werden. (In Hamburg und Wien gibt es Ähnliches; in Köln wurden die 10-Euro-Stehplätze abgeschafft; in Amsterdam ist das Konzertvergnügen eher teuer.)

Wäre es nicht tatsächlich besser, wenn man einfach nur zuhause mittels exquisiter Stereoanlage oder magischer Kopfhörer seine Konzerte hörte? Aber wir brauchen doch das Live-Erlebnis!

Nächstes Wochenende bin ich übrigens in der bayerischen Landeshauptstadt. Blomstedt dirigiert Bruckner; ich werde berichten. Mal sehen, ob’s im Herkulessaal auch ein paar dauerquasselnde Deppen gibt.

Dr. Brian Cooper, 10. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dr. Brian Cooper, geboren 1977 in Köln, irischer Staatsbürger mit bergischer Vergangenheit, Studium der Literatur und Musik in Dublin, Bilbao und Paris, mit Schwerpunkt französische (M.A., Sorbonne) und spanische Literatur (PhD, University College Dublin). Lebt und arbeitet als Übersetzer und Lektor in Bonn. Zwei Jahre lecteur d’anglais an der Sorbonne, trieb sich infolgedessen viel in Pariser Kinos und Kulturstätten herum. Wurde schon vor dem zehnten Lebensjahr in Konzerte mitgeschleppt, was sich als Glücksfall entpuppte. Seither vollkommen angefixt. Erster Geigenunterricht mit knapp neun, über die Jahre Mitglied verschiedener Laienorchester. Als Kind und Jugendlicher viel Streichquartett gehört, und auch gespielt, noch heute große Zuneigung für das Genre, wenngleich heftige Abneigung gegen Beethovens Große Fuge. Peu à peu die großen Orchester entdeckt, dann die richtig großen: zwei Erweckungserlebnisse mit Mahlers Erster und Sechster Sinfonie unter Mariss Jansons und dem Concertgebouworkest, das seit Mitte der 2000er Lieblingsband ist und alljährliche Pilgerreisen in den Amsterdamer Tempel zum lebenserhaltenden Pflichtprogramm macht. Seit 2005 jährlicher Besucher des gänzlich unprätentiösen und spannenden Berliner Musikfests. Hat sich damit abgefunden, dass Musik ein Kosmos ist, für den ein Leben nicht ausreicht, und lebt seitdem entspannter.

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Ruhe- und Disziplin-Offensive in der Elbphilharmonie, Elbphilharmonie Hamburg

18 Gedanken zu „„Warum ich nie wieder die Philharmonie de Paris betreten werde“
klassik-begeistert.de, 10. Januar 2023“

  1. Lieber Herr Dr. Cooper,
    wir gehören ja beide zur kölner Truppe sozusagen, insofern kann ich viele Ihrer Einwände im Bezug auf die Philharmonie am Rhein nachvollziehen, wenn nicht sogar bestätigen. Aber was stört Sie so sehr am Handy? Ich bevorzuge es inzwischen, mir die Konzertprogramme digital vor Konzert auf mein Handy zu laden und dort griffbereit zu haben, wenn ich was nachlesen möchte, was besonders bei Uraufführungen immer mal wieder auch während des Anhörens nötig ist. Schont die Umwelt und ist leiser, als das Geraschel mit dem Programmheft. Insofern verstehe ich Ihre generelle Ablehnung nicht so ganz.

    Außer Frage steht natürlich, dass im Internet Surfen, Texten oder sogar Telefonieren in der Philharmonie selbst alles andere als angemessen ist, da stimme ich Ihnen zu. Das kann man auch zuhause machen, dafür geht man ja nicht ins Konzert.

    Beste Grüße,
    Daniel Janz

    1. Lieber Daniel,

      ein Handy-Display ist doch viel zu hell im Konzertsaal – das nervt die Menschen um Dich herum. Dafür habe ich wie Brian keinerlei Verständnis. Rascheln mit dem Programmheft ist eh ein No Go!

      Andreas

      1. Ja? Ist dem generell so? Oder ist das ein Generationen-Ding?
        Ich muss gestehen, mich stört das jetzt nicht, wenn jemand das Handy neben mir nutzt, um was nachzulesen. Selbst beim Chatten kann ich noch drüber hinwegsehen, auch wenn ich es als deplatziert im Konzertsaal empfinde. Aber ich bin ja nicht da, um mich am Publikum zu belustigen, sondern um die Musik zu hören. Ein geräuschloser (!) Handygebrauch ist mir jedenfalls allemal lieber, als der Klassiker, dass erst mal das Programmheft rausgekramt wird, dann wird laut geblättert, zwischendurch noch mal ein Hustenbonbon knisternd geöffnet und verschlungen, dann fällt die Lektüre auch noch runter und in der Zwischenzeit sind 5 Minuten Musik einfach gestört.

        Mir ist jedenfalls noch nie begegnet, dass sich jemand wegen dem Gebrauch eines Handys beschwert hätte. Allerdings hatte ich auch schon Konzerte, wo die Nutzung des Smartphones nicht nur nicht sanktioniert wurde, sondern man fast schon dazu aufgerufen war, es zu nutzen. Deshalb frage ich.

        Daniel Janz

        1. Lieber Daniel,

          wo wird man vom Veranstalter aufgefordert, ein Handy „zu nutzen“?
          Ein leuchtendes Handy im Konzertsaal ist ein No Go – generationenübergreifend.

          Herzlich

          Andreas

          1. Ich habe schon medial begleitete Konzertformate – häufig gezielt für jüngeres Publikum oder Schulklassen – erlebt, da wurde dazu aufgerufen, beim Konzert zu kommentieren. Die Kommentare konnten dann live auf Facebook gepostet werden oder wurden gesammelt, um zwischen den Stücken oder nach der Aufführung einige diskussionswürdige Meinungen vorzustellen. Und in Düsseldorf erlebe ich immer wieder, wie das Publikum dazu ermutigt wird, nicht nur Fotos zu schießen (solange es ohne Blitz ist), sondern diese dann auch einzuschicken.
            Solche Dinge habe ich bisher immer als sehr lebendig und nahe am Publikum erlebt. Wohlgemerkt eignet es sich aber auch nicht für jedes Konzert – meinen Mahler oder Bruckner möchte ich dann doch schon lieber ohne mediales Blinkblink aufgeführt wissen.

            Herzlich auch zurück,
            Daniel Janz

          2. Grausam! Zum Fremdschämen…..

            Warum können so viele Menschen nicht mehr zwei Stunden lang zuhören, ruhig sitzen und an keiner Fritz Cola nippen –
            und nicht alle zehn Minuten aufs Handy schauen, ob ein Foto von einer Bekannten aus der Frittenbude erschienen ist?

            Wer ermutigt die Menschen in Düsseldorf im Konzertsaal – während des Konzerts – Fotos zu schießen und diese einzusenden?

            So einen Unsinn mach ich nicht mit! Weder bei Mahler, noch bei Mozart!

            Andreas Schmidt, Herausgeber

          3. Naja, als ob Mozart nicht auch vor ungezügeltem Publikum gespielt hätte.
            Was damals am Hofe so neben dem Streichquartett abging war ja nun auch allzu oft was Anderes, als Stillsitzen und Zuhören 😉

            Man muss wohl wirklich zwischen diesen drei Ebenen unterscheiden, ob Mediennutzung gewünscht, nur geduldet oder eher verpönt ist. Am Beispiel des Handys kann man sehr gut zeigen, dass verschiedene Formate auch verschiedene Maße an Umgang mit den Medien und/oder Disziplin voraussetzen. Ist vielleicht wirklich eine Typfrage? Unter Gleichaltrigen begegnet mir die Abneigung gegen das Stillsitzen jedenfalls immer wieder als der klassische Grund, warum sie nicht ins Konzert gehen wollen. Insofern bin ich für Alternativformate dann doch dankbar, wenn diese dazu beitragen, jene Kultur zu erhalten, für die wir hier ja alle brennen.

            Die Frage ist (glaube ich) weniger, ob die Menschen nicht mehr die Fähigkeit haben sich hinzusetzen und zuzuhören (ja, diese Menschen, die gar nicht mehr ohne Handy können gibt es auch – das ist nervtötend, keine Frage. Denen würde ich aber auch kein klassisches Sinfoniekonzert zum Einstieg empfehlen). Sondern ob und inwiefern man moderne Medien mit in ein Konzert einbindet, ohne andere Menschen zu stören. Ob das zum Konzept gehört oder nicht.

            Ich bin offen für beides, sei es nun das klassische Format ohne alles Digitale, oder etwas Interaktives. Verstehe aber auch, dass da jeder anders empfindet und finde das auch völlig legitim.

            Daniel Janz

            P.S: Solche Formate sind übrigens nicht nur auf Düsseldorf beschränkt, in Belgien habe ich das auch erlebt.

          4. Lieber Daniel,
            let’s keep it simple:
            Ein mobiles Telefon im Betrieb hat während der Aufführung nix zu suchen.
            Das ist ganz einfach, aber wahr. Du argumentierst viel zu kompliziert.
            Wenn Du neben mir säßest und Dein Programmheft im hellen Handy läsest, würde ich Dich bitten,
            es zu unterlassen oder es Dir – bis zur Pause – wegnehmen.
            Wer nicht 1,5 Stunden stillsitzen kann (unterbrochen von einer halbstündigen Pause),
            möge gerne ins Cinemaxx oder ins Fitness-Studio gehen.
            Auch im Fußballstadion gibt es Gesetze: Ich kann nicht als HSV-Fan mit HSV-Kutte in die St.-Pauli-Kurve gehen.
            Dass Du nur bei Deinen Lieblingen Mahler und Bruckner um absolute Ruhe bittest, ist inkonsequen und macht keinen Sinn.

            Andreas Schmidt, Herausgeber

          5. Touché – das mit Mahler und Bruckner war nicht präzise ausgedrückt, sondern speziell im Hinblick auf das Format „klassisches Sinfoniekonzert“ gemünzt. Ja, das stimmt, da könnte es mich noch am ehesten stören. Eher jedenfalls, als bei einem Kinder- und Jugendkonzert.

            Aber reden wir vielleicht über unterschiedliche Arten der Handynutzung? Wenn ich von dem Abrufen des Programms auf dem Handy rede, dann meine ich damit einmalige Aktionen, vielleicht von 1 oder 2 Minuten Länge. So, wie hier argumentiert wird, klingt es, als ob diese nervigen Dauer-Texter gemeint sind, bei denen alle 2 Minuten das Display neu aufleuchtet?

            Aber ich nehme aus der Diskussion mit, dass selbst solch vermeintlich kleine Aktionen beim Konzertbesuch offenbar ein hohes Maß an Sensibilität voraussetzen und auf unterschiedliche Personen unterschiedlich wirken. Insofern ist meine Frage auch geklärt, Hintergrund der Frage war ja, dass mich so etwas nur in einem sehr engen Kontext stört, aber nicht bei jeder Form von Konzertbesuch. Deshalb ist es auch für mich sehr bereichernd, andere Standpunkte zu erfahren.

            In dem Sinne auf viele weitere, schöne (und hoffentlich störungsfreie) Konzertbesuche 🙂

            Herzlichst,
            Daniel Janz

    2. Lieber Herr Janz,

      mich stört in der Tat jegliches Bildschirmlicht von Smartphones, Smartwatches & Co., das Rascheln von Programmheften – meine Abonachbarin verwendet ihres auch im Winter gern mal als Fächer – sowie andere vermeid- bzw. unterdrückbare Geräusche. Kommentar eines Konzertfreundes am vergangenen Montag: „Dass nach drei Jahren Corona manche Leute noch immer nicht ihre Armbeuge gefunden haben…“

      Mein eigenes Handy schalte ich erst auf stumm und dann ganz aus. Ich habe in der Kölner Philharmonie aber ohnehin keinen Empfang.

      In einer idealen Welt hätten Zuhörerinnen und Zuhörer beim Zuhören gar nichts in der Hand. Taschen kann man unter den Sitz legen; Tabletten kann man vorher, in der Pause oder nachher einnehmen; Bonbons kann man vorher auspacken; ebenso Taschentücher bereitlegen (à propos: Haben Sie zufällig am Montag die zum Heulen schöne Sinfonia concertante mit Isabelle Faust, Antoine Tamestit und Sir John Eliot Gardiner erlebt?).

      Für mich sind Programmhefte ein schönes Souvenir, in seltenen Fällen sogar ein haptisches Vergnügen, wenn mir auch inzwischen bei mehreren Regalmetern allmählich der Platz ausgeht. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Kölner Philharmonie und andere Häuser die Programmhefte mindestens 24 Stunden vorher digital zur Verfügung stellen. Kölner Abonnenten bekommen sogar eine e-Mail.

      Wer also Zeit hat, kann das Programmheft bequem zuhause, auf dem Weg ins Konzert oder unmittelbar vorher lesen. Im Konzert finde ich das nicht mehr so prickelnd, weder in Papierform noch auf dem Handy, zumal ich viele Menschen beobachte, die einfach nur gedankenlos herumblättern und irgendwie ohnehin fast immer bei der Vita der Ausführenden landen. Und die kann man nun wirklich sogar nach dem Konzert lesen.

      Mein Freundeskreis unterstellt mir manchmal übertriebene Strenge; man fragt mich, wo da der Genuss bleiben soll. Für mich handelt es sich jedoch um nichts Anderes als um ein klein wenig Rücksichtnahme und auch um Disziplin. Und jedes Publikumsmitglied kann mit ein bisschen Nachdenken und extrem wenig Aufwand extrem viel zu einem schönen gemeinsamen Erlebnis beitragen.

      Ich freue mich auf hoffentlich baldiges Kennenlernen!

      Brian Cooper

      1. Lieber Brian,

        Du hast in ALLEM recht.

        Du bist nicht streng.
        Du suchst den Genuss.

        Kein Wunder: Du willst für ein, zwei Stunden göttliche Musik hören.
        Dafür zahlst Du, das ist Dein Anrecht.
        Dein spirituelles und monetäres Anrecht.

        Du willst Musik hören, die mehr zu bieten hat als Trivialgeräusche wie Handygepiepe und Bonschepapiergeraschel.

        Diesen Genuss nehmen viele Rücksichtslose uns aber immer öfter.

        Ich bin für Ansprachen in Konzerthäusern – Ansprachen von MENSCHEN, die vor jeder Aufführung aus das SELBSTVERSTÄNDLICHE hinweisen. Das wirkt mehr als eine lustlose Tonbandverkündung auf Deutsch und Englisch. Der Boss der Elbphilharmonie, der Wiener Christoph Lieben-Seutter, hat dafür schon einmal tosenden Applaus von 2000 Menschen bekommen. Vor der Aufführung.

        Herzlich

        Andreas

      2. Ah, Ihre Antwort lese ich erst, nachdem ich schon in der vorherigen Diskussion geantwortet habe, sonst hätte ich meine beiden Rückantworten jetzt zusammengefasst…

        Jeder Mensch setzt doch die Ansprüche ans Konzerterlebnis, die für ihn/sie Voraussetzung sind, um zum Genuss zu finden. Für manche ist das die absolute Stille, für andere das künstlerische Niveau, wieder andere wollen verstehen, was die Musik ihnen erzählen will (ich gehöre wohl zu dieser Gruppe). Ich finde es daher auch völlig legitim, solche Ansprüche aufzustellen, ob es nun streng genannt werden mag, oder nicht. Nur, weil ich das lockerer sehe oder mir gegenüber solchen Marotten eine gewisse Gelassenheit angeeignet habe, heißt es ja nicht, dass meine Sicht die Richtigere wäre, im Gegenteil: „all sentiment is right“ (David Hume). Insofern hilft auch mir dieser Austausch, um festzustellen, was ich noch besser tun kann, um das Konzerterlebnis für andere nicht zu stören.

        Grundsätzlich stehe auch ich den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters offen und freudig gegenüber. Wie gesagt – das digitale Programm ist mir inzwischen lieber, als das ausgedruckte, denn zu gefühlt 75 % bin ich mit den Texten nicht einverstanden oder habe das Gefühl, dass sie mir nichts Neues mehr sagen. Und da ist es dann besser, einmal auf löschen zu drücken, als wieder alles in den Papierkorb zu werfen.
        Grundsätzlich befürworte auch ich das Durchlesen des Programmhefts vor dem Konzert oder in der Pause, wenn man mal was nachlesen muss. Bei einigen der merkwürdigsten Uraufführungen, die ich schon erlebt habe, ließ es sich aber nicht vermeiden, das Programm noch mal während der Aufführung zur Hand zu nehmen. Denn wenn man partout die Intention des Komponisten oder das im Programm Geschriebene nicht in der Musik wiederentdecken kann, dann stelle ich mir nämlich schon die Frage, ob das jetzt an mir selbst liegt, ob der Programmhefttext einfach missverständlich geschrieben ist oder ob das wirklich an der Unfähigkeit des Komponisten liegt. Und solch eine gefühlte kognitive Dissonanz führt zumindest bei mir dann auch dazu, dass ich mich zu meinem Höreindruck zurückversichern oder den Text noch einmal zeitnah auffrischen muss.

        Das Konzert am Montag ist mir übrigens leider entgangen, da war ich verreist. Ich bin erst wieder am 18. in der kölner Philharmonie… dieses Jahr besuche ich Köln aber generell seltener, als in der Vergangenheit. Mal davon abgesehen, dass ich das kölner Programm speziell in dieser Saison besonders mut- und einfallslos fand (5 unterschiedliche Orchester mit Mahlers Erster, 4 Mal Prokofjew Romeo und Julia, ein fast schon exzessiver Fokus auf Mozart, Beethoven und Dvořák, während die mutigen Stücke, wie Respighi, einfach abgesagt werden… um nur ein paar Gründe für meinen Eindruck zu nennen), haben mich auch die Qualitäten der Aufführungen dort (WDR Sinfonieorchester vor allem) dermaßen oft enttäuscht, dass ich gerade ein wenig Luft brauche, um mich wieder auf diesen Saal einlassen zu können.
        Freuen tue ich mich aber schon auf die Wuppertaler nächsten Mittwoch. Und bald sind ja auch wieder die Wiener Philharmoniker, Lisiecki und das Royal Philharmonic Orchestra, die Londoner Philharmoniker, Jakub Hrůsa, den ich bisher ausschließlich in positiver Weise erlebt habe, und einige andere in Köln (Currentzis wurde ja leider abgesagt). Da gibt es also wieder ein paar Dinge abseits der Lokalorchester, auf die man sich freuen kann.

        Bestens,
        Daniel Janz

        1. „Für manche ist das die absolute Stille, für andere das künstlerische Niveau, wieder andere wollen verstehen, was die Musik ihnen erzählen will.“

          Du sagst es, lieber Daniel! Und dafür muss man die Gosch halten, das Handy komplett ausstellen (damit z.B. der Wecker nicht klingelt) und einfach nur RUHIG zuhören. Ist das so schwer?

          Herzlich

          Andreas Schmidt, Herausgeber

  2. Mir geht das auch gegen den Strich, wenn rundherum lauter Handys leuchten. Vor allem deshalb, weil die überwiegende Mehrheit nicht das Prorammheft liest, sondern irgendwo Ablenkung auf Social Media sucht. Zum Glück werden an der Wiener Staatsoper die meisten Besucher während der Vorstellung von den Mitarbeitern gerügt, wenn sie die Handys ziehen. Zwar nur zu Beginn, und nur wenn sie filmen, aber immerhin. Während der Vorstellung weise ich dann schon Mal Leute darauf hin, sie sollen das bitte überlassen. Aber nur dann, wenn der Handygebrauch Überhand nimmt und kein Ende nehmen will. Hin und wieder ein kurzer Blick nervt zwar auch, aber ist noch erträglich.

    Mittlerweile muss ich aber zugeben: Ich habe aufgehört, mich zu sehr von den Störenfrieden in meinem Wohlbefinden beeinflussen zu lassen. Es bringt ja nichts, sich da zu sehr reinzusteigern. Denn, wie das Wort selbst ja schon andeutet: Ich rege mich auf. Das heißt: Nicht der andere. Der bleibt entspannt, während er am Handy spielt.

    Das Problem: Rege ich mich auf, dauert es mal wieder 10 Minuten bis ich runterkomme und mich entspanne. Somit versuche ich eher an meiner Einstellung zu arbeiten. Denn nur das kann ich beeinflussen. Interessenbereich und Einflussbereich sind nämlich zwei paar Schuhe. Das lehrt schon der Covey in seinem Klassiker „Die 7 Wege zur Effektivität: Prinzipien für persönlichen und beruflichen Erfolg“. Und die Störenfriede werden ja nicht weniger. Die werden immer mehr. Überhaupt dort, wo viele Touristen zu Gast sind. Elphi, Stehplatz oder Galerie der Wiener Staatsoper etc. Wenn ich mich nur mehr auf die konzentriere, wirds bald eng und der Konzertbesuch sinnlos.

    Mein persönlicher Weg, um das alles gelassener zu sehen, ist genau der angesprochene Punkt von Daniel Janz. Zu Mozarts Zeiten haben die Zuschauer während des Konzerts gegrölt, gefressen und gesoffen. Ruhe gabs da keine. Das Konzert auf der Bühne war nur Beiwerk. Zum Glück hat sich das mit der Zeit geändert, und wir respektieren die Musiker viel mehr. Aber der Ansatz, sich das vors geistige Auge zu holen, erleichtert mir, dass ich alles etwas lockerer sehe.

    In diesem Sinne wünsche ich eine Gute Nacht
    Jürgen Pathy

    1. Lieber Jürgen,

      warum muss ich zum Buddha werden, wenn kulturferne Menschen nicht 2 Stunden (inkl. 0,5 Stunden Pause)
      die Gosch halten und ihr HAND-y ausschalten können? Wenn sie Rummel wollen, sollen Sie ins Wirtshaus oder auf die Kirmes gehen und dort sabbeln.

      Herzlich,

      Andreas Schmidt, Herausgeber

  3. Liebe Kulturbegeisterte, respektloses Verhalten gegenüber Kunst und Künstlern sowie die Begleiterscheinung des vermasselten Abtauchens in Genuss, Stimulation und Freude, gibt es nicht nur in der Klassik. Das ist mir auch schon im Theater, im Museum und auch im Kino begegnet.

    Ich möchte nicht simultan und ungewollt bequasselt werden, wenn ich einen Film schaue, nur weil der mir unbekannte Sitznachbar vor seiner Clique glänzen möchte und jetzt einen auf Scriptwriter macht – nur leider in Echtzeit und laut hörbar…

    Letztes Jahr in der Hamburger Kunsthalle turnen zwei Vierjährige in abwesender Begleitung ihrer Mutter durch die Sammlung. Erst wird eine Skulptur begrabscht und dann die nächste… von beiden. Hätte die Aufsichtskraft nicht eingegriffen… Naja, von der Mutter war kein Handeln zu erkennen. Das schreibe ich als Frau, die dann für sowas wahrscheinlich als kinderfeindlich angefeindet wird.

    Aber da liegt doch genau das Problem: Meine Mutter hat mich mitgenommen zu Konzerten und ins Theater. Und ich habe sofort gemerkt: Hui, das bedeutet ihr was. Da freut sie sich drauf. Und dann hat sie mit mir besprochen wie das so geht als Besucher im Konzert und was sie daran so mag. Da war alle Zeit für Fragen vorab. Und die Spielregeln waren total klar: still sein, zuhören, sich drauf einlassen.
    Wo sind denn die Eltern, die Verwandten, die Freunde… Die Menschen, die man mag und schätzt als Kunstneuling und die einem sagen: Schau mal, so läuft das hier.

    Ich mache jetzt mal ne steile These auf: Sterben die genussvollen Zuhörer gerade aus und werden ersetzt durch Leute mit einer Aufnahmekapazität von TikTok?!

    Luise Schönherr

    1. Liebe Frau Schönherr,

      dem ist nichts hinzuzufügen.

      Ein Gedanke: Die Konzert-Menschen, die quasseln, unruhig sitzen, fotografieren, die in die „sozialen Medien“ (was für ein Unwort) via Handy abtauchen… diese Menschen bringen sich um so viel, sie verlieren so viel, sie erfahren so viel nicht…
      weil sie es nicht im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule gelernt und vorgelebt bekommen haben.

      Sie sind die eigentlichen Verlierer. Verlierer, die nicht wissen, nicht spüren, dass sie verlieren…

      Herzlich,

      Andreas Schmidt, Herausgeber

  4. Hallo Herr Cooper,
    ich verstehe Ihre Meinung voll und ganz. Früher war ich selbst ein begeisterter Konzert- und Opernbesucher. Ich liebte die Atmosphäre im Konzertsaal, die Vibrationen der Luft bei der Musik, aber vor allem die Stille, die nach dem Abklingen der wundervollen Musik die Zeit für einen Moment anhält. Mich störte nicht das „Kölner Husten“. Sogar störte mich selbst das Herunterfallen einer Perle aus einer Kette während der wunderbaren Aufführung des 2. Beethoven-Klavierkonzerts mit Kissin und Barschai nicht. Was mich aber immer weiter störte und immer noch stört, ist das beginnende Klatschen vor dem letzten Ton. Jedes Mal, wenn ich meine Liebslingsoper „Die Frau ohne Schatten“ höre, zittere ich automatisch und bete, dass keiner nach dem 1. und 3. Akt die aufgebaute Welt frühzeitig zerstört. Die Unsitten sind in der MET üblich, weshalb ich die Übertragung aus New York ungerne höre, aber sie kamen 2022 sogar in Bayreuth an. Bei der Tristan-Direkübertragung haben wir die letzten Töne nicht mehr mitbekommen. Letzte Woche, bei der BR-Übertragung der 4. Bruckner mit Blomstedt, hat man beinahe geschafft, zumindest ein paar Sekunden still zu halten und den stillen Nachklang im Kopf und Geist zu genießen, bis einer ungeduldig anfing, zu klatschen. Ich erinnere mich gerne an ein Konzert in Hamburg vor mehr als zwanzig Jahren. Nach der wunderbaren Aufführung von der 8. Bruckner mit dem NDR-Sinfonieorchester unter Günter Wand gab es fast eine Minute, eine gefühlte halbe Ewigkeit, Stille, als ob die Zeit still stand – bis sich Günter Wand langsam zum Publikum gedreht hat. Das war ein wunderbares Konzert. Einige Orchestermitglieder können sich sicherlich noch an diesen Moment erinnern. Ich hoffe, dass wir als Publikum wieder lernen, solche Momente zu genießen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Shingo Matsumoto

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