Fondazione Prada, Riccardo Muti, Foto © Niccolò Quaresima
Riccardo Muti arbeitete in seiner 7. Opernakademie an „Nabucco“ in der Fondazione Prada
von Kirsten Liese
Diese Oper würde ihm zu den Ohren herauskommen, sagte mir vor einiger Zeit ein Radio-Kollege, deshalb wolle er Nabucco nicht mehr sehen. Vielleicht wäre er zu einem anderen Ergebnis gekommen, wenn er 13 Tage lang miterlebt hätte, wie der größte Verdi-Experte Riccardo Muti das geniale Werk mit jungen Dirigenten, Korrepetitoren, Sängern, dem Coro Cremona Antiqua und seinem Orchestra Giovanile Luigi Cherubini en detail in der Fondazione Prada in Mailand erarbeitete.
Da gab es so viele grundlegende Erkenntnisse zu gewinnen, dass mir klar wurde: Ich hatte zuvor noch keine guten Aufführungen dieses Werkes erleben dürfen. Alles, was es für die Junioren zu lernen gab, machen offenbar auch die meisten Dirigenten falsch.
Über Mutis so genaue, spannende Lektionen fange ich also mit Nabucco gerade erst an, realisierend, wie sich die Dramatik vor allem in den Rezitativen vermittelt, die meistens überhaupt nicht die Bedeutsamkeit seitens Wort und Sprache erhalten, die sie verdienen. Und staune, wie Muti, der diese Oper unzählige Male dirigiert hat, teils in historisch unvergesslichen Aufführungen, am vorletzten Abend den Nabucco selbst noch einmal konzertant mit einem Enthusiasmus dirigiert, als wäre es das erste Mal.
Das betrifft vor allem auch den berühmten Gefangenenchor Va’ pensiero. Verdi habe sich den Anfang „come un sogno“ vorgestellt, also wie einen Traum, ganz aus dem Nichts beginnend und „sotto voce“ (mit gedämpfter Stimme) und – weil „cantabile“ (gesanglich) – auch deutlich langsamer als oft zu hören. Und genauso tönt es bei Muti auch.
Zehn Kandidaten, jeweils fünf Frauen und Männer, hatte der Maestro aus mehreren hundert Bewerbungen ausgewählt: Raffaella Angelastri, Linda Piana, Cecilia Pronzato, Filippo Bittasi und Giacomo Anglani, alle aus Italien, für die Korrepetition; Elinor Rufeizen (Israel), CJ Wu (Taiwan), Giuseppe Famularo (Italien), Henry Kennedy (England) und Cristian Spataru (Rumänien) für den Bereich Dirigieren. Zum trefflichen Solisten-Ensemble zählten Serban Vasile (Nabucco), Riccardo Zanellato (Zaccaria), Anastasia Bartoli (Abigaille), Azer Zada (Ismaele) und Francesca Di Sauro (Fenena), allesamt eine Wucht.
Wiewohl mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten gesegnet, waren die „Baustellen“ bei den Junioren weitgehend ähnlich. Für sie alle galt es vor allem die ungeheure Bedeutung des Textes bei Verdi zu erfassen. „Signora, le parole“ zitiert Muti in einer Probe den legendären Arturo Toscanini, der einst vor 80 Jahren einer Primadonna zu verstehen gab, dass ihre schöne Stimme alleine nicht ausreiche.
Mehrfach macht Muti vor, wie Worte – entsprechend deklamiert, mit einem sehr deutlich prononcierten scharfen „r“ bei Verdi – an Dramatik gewinnen. „Orror“ (Entsetzen), Furor“ (Wut), „Terror“ (Terror): Schier furchterregend füllt sie der Maestro, an dem wohl auch ein Schauspieler verloren gegangen ist, mit Leben, dies speziell auch in den Rezitativen.
„Bei Verdi stehen Worte und Noten in einer vertikalen Beziehung“, sagt der Connaisseur, „es ist nicht wie später beim Verismo, wo das Orchester im Zuge von Wagners Einfluss symphonischer wird.“ Bei Verdi unterstützte das Orchester die Linie der Wörter: „Jede Note ist mit jedem Wort direkt verbunden. Deshalb kann man einen Akkord nicht separat vor dem Beginn oder nach dem Beginn einer Phrase ansetzen, er bezieht sich immer auf das, was der Sänger tut. Jede Note sollte den Klang, die Atmosphäre einfangen, die von dem Wort ausgeht und umgekehrt. Und das ist extrem schwierig.“
Muti ist ein ebenso anspruchsvoller wie geduldiger und humorvoller Lehrer. Wie ein Springteufel ist er vital in seinem Element, erklärt, singt, demonstriert am Klavier, unternimmt musikgeschichtliche Exkurse in die neapolitanische Schule des 18. Jahrhunderts, lobt Sänger, Chor und Orchestersolisten, wenn sie eine Stelle grandios musiziert haben, und hat seine wachsamen Augen überall.
Er lässt nicht locker, wenn die Junioren nach mehreren Versuchen nicht umsetzen können, was er verlangt, lockert seinen Unterricht aber auch immer wieder mit heiteren Anekdoten auf. Besonders lustig wird es freilich immer wieder, wenn Muti vormacht, wie es nicht sein soll.
Im Finale des zweiten Aktes gilt seine Aufmerksamkeit der Szene des Nabucco: „Ah, perché, perché sul ciglio una lagrima, una lagrima spuntò“. Der Rumäne Serban Vasile, ein großartiger Bariton, der nicht zum ersten Mal mit Muti zusammenarbeitet, gestaltet seine Phrase sehr berührend, genauso so, wie der Maestro es vorgemacht hat. Dennoch gibt es noch eine Kleinigkeit zu optimieren: Das Pizzicato der Kontrabässe tönt dazu etwas dünn. Etwas mehr Aufmerksamkeit seitens der Dirigentin wirkt Wunder, die armen kämen sowieso immer zu kurz, erklärt der Maestro Elinor Rufeizen, weil die meisten Dirigierenden vorzugsweise den Blickkontakt zu den hohen Streichern oder Bläsern suchen.
Und dann kommt wieder einer der so wichtigen grundlegenden Sätze, für den Muti diesmal einen Konzertmeister der RAI zitiert, der vor vielen Jahren zu ihm sagte: „Maestro, ama l’orchestra!“ Also er solle das Orchester lieben. Eigentlich banal, aber von großem Effekt.
Immer wieder klingen in der Akademie auch solche menschlichen Aspekte an. Einmal eröffnet Muti eine Nachmittagsprobe mit Bemerkungen zu dem schwierigen Karriereweg der jungen Orchestermusiker. Schon so manches Mal musste er auf Wettbewerben erleben, wie ausgezeichnete Kandidaten unfair behandelt wurden, die von einem Juror die Höchstpunktzahl bekamen, von einem anderen die niedrigste. Und nun kommt noch die schwierige Covid- Situation mit all den Restriktionen obendrauf. Das stimmt traurig.
Handwerklich sind einige der Junioren schon recht erfahren. Der Italiener Giuseppe Famularo zum Beispiel, der anfänglich sehr selbstbewusst auftritt, sich wie ein Divo mit der Hand durch die Mähne streift, bevor er den ersten Einsatz gibt. Riccardo Muti holt ihn von solchen Attitüden schnell herunter und konfrontiert ihm mit dem, woran es zu arbeiten gilt. Wie sich gerade Famularo dann im Laufe der Tage enorm entwickelt, solche Meriten ablegt und mit einem reifen Dirigat beim Abschlusskonzert präsentiert, weckt Hoffnungen.
Dem sympathischen, Bescheidenheit ausstrahlenden Briten Henry Kennedy ist anzusehen, dass er ein Schützling von Christian Thielemann ist, der seitens Mimik und Gestik bereits auf ihn abgefärbt hat.
Aber auch die beiden Frauen unter den Dirigenten lassen eine vielversprechende Entwicklung erkennen.
Die hohe Kunst des Dirigierens, lehrt Muti, liegt freilich nicht nur darin, präzise Einsätze zu geben. Die linke, für den Ausdruck zuständige Hand, ist die wichtigere. Aber auch mit der rechten gilt es die Musik plastisch zu formen. Zu einer Stelle mit Arpeggien zeichnet Muti schwungvoll eine Acht durch die Luft.
Ein sehr wichtiges Kapitel in der Opernakademie betraf freilich auch die häufige Falschinterpretation von typischen Achtel-Begleitfiguren bei Verdi. Allzu leicht lassen sich Dirigenten dazu verführen, sie beschwingt wie ein Trinklied oder einen Tanz anzustimmen. Aber das harmoniert in Nabucco nicht mit der Dramatik der Handlung wie vor allem im Finale des zweiten Aktes: „S’appressan gl’instanti d’un’ira fatale“, wo der Titelheld den Verstand verliert.
Für die Korrepetitoren galt es zu lernen, dass Virtuosität auf den Holzweg führt, wiewohl der Klavierauszug mit rasanten Kaskaden, Tremoli und Blockakkorden an Bravourstücken reich gespickt, an Franz Liszt oder Chopin erinnern mag. Wer sich diesem Beruf nach Mutis Verständnis verschreiben will, muss folglich lernen, Verdis Instrumentation möglichst farbenreich darzustellen und gleichzeitig einzelne Stimmen mit dem gebotenen Ausdruck zu singen.
Bei alledem ist es ein wichtiges Ziel Mutis, die Junioren zu ermutigen, Verdi im Opernbetrieb gegen absurde Eingriffe von Regisseuren zu verteidigen. Dazu brauche es Mut, sagt er in unserem Interview am letzten Abend, „aufzustehen und nein zu sagen“. Er selbst steht beispielhaft dafür, scheute solche Konflikte in jungen Jahren nicht. 1973 habe er gleich drei Mal in kurzen Abständen hintereinander Opernhäusern den Rücken gekehrt, erinnert er sich: Zuerst in Florenz beim Maggio Musicale, als ein Regisseur aus rein politischen Gründen engagiert wurde, danach an der Scala, als Luciano Pavarotti, der später sein Freund wurde, zu kapriziös wurde. Und schließlich an der Pariser Oper, wo nach der plötzlichen Erkrankung Luchino Viscontis ein drittklassiger Regisseur auf ihn losgelassen wurde. Muti bat den damaligen Intendanten Rolf Liebermann um Beistand in der Auseinandersetzung mit dem Regisseur, den er ihm aber verweigerte. Der Dialog mit dem damaligen Schwergewicht ist dem Maestro noch bestens in Erinnerung: „Herr Liebermann sagte: ‚Sie sind zu jung, um es sich leisten zu können, an der Pariser Oper hinzuschmeißen.‘ Damit erreichte das Gespräch ein Ende, denn ich verließ umgehend Paris und kehrte nach Mailand zurück. Zufällig traf ich Liebermann 15 Jahre später wieder, nachdem ich Karriere gemacht hatte. Als er mich sah, begrüßte er mich mit ‚Guten Abend, Maestro Muti‘. Und ich entgegnete: ‚Herr Liebermann, ich würde gerne unser Gespräch, das wir vor 15 Jahren führten, fortsetzen.‘“
Wie sehr es gerade auch in heutigen Zeiten an vergleichbaren Autoritäten wie Muti fehlt, zeigte sich zeitgleich an der Scala. Da eröffnete Riccardo Chailly die Saison mit Verdis Macbeth und ließ alle Qualitäten vermissen, die Muti mit den Junioren erarbeitete. Schaurig und gespenstisch wurde es da nie.
Dass Riccardo Muti mit seiner 7. Opernakademie erstmals von Ravenna nach Mailand gezogen war, hatte diesbezüglich aber keinen Hintersinn, wie er sagt: „Die ganzen Mutmaßungen im Kontext mit der parallelen Stagione-Eröffnung an der Scala, der wir angeblich Konkurrenz machen wollen, ist nur dummes Gerede. Wir bekommen keine staatlichen Gelder, wir überleben Dank Sponsoren, und eine Sponsorin wie Miuccia Prada ist da für uns von weitaus größere Bedeutung als ein Sponsor in Ravenna.“ Auch was den Zeitrahmen angeht, war dies für Muti die einzige Möglichkeit, war er zuvor doch auf einer großen Tournee mit den Wiener Philharmonikern unterwegs und im Januar wartet bereits das Chicago Symphony Orchestra auf den Maestro.
Kurz nach meiner Rückkehr vernahm ich erschüttert, dass Muti an einer Lungenentzündung erkrankt sei. Hoffen wir, dass er bald wieder genesen ist! Gute Besserung Maestro!
Kirsten Liese, 21. Dezember 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti, Salzburg, 16. August 2021, Großes Festspielhaus
CD-Besprechung, Saverio Mercadante, I due Figaro, Riccardo Muti Music klassik-begeistert.de
Diese Rezension ist so lebendig geschrieben, daß ich FAST dabei war. Danke, Kirsten Liese 💐