Yordan Kamdzhalov © Milena Kamdzhalova
Bereits in den ersten Takten war zu spüren: Hier war kein Konzert im herkömmlichen Sinne, hier war ein Bekenntnis – zur Musik, zur Menschlichkeit, zur Idee, dass Musik heilen kann.
Georges Bizet
„Carmen“-Suiten 1 und 2 – Auszüge
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 4 Es-Dur „Romantische“
European Doctors Orchestra
Yordan Kamdzhalov, musikalische Leitung
VILCO Stadthalle Bad Vilbel, 25. Mai 2025
von Dirk Schauß
Es ist ein außergewöhnliches Glück, wenn Musik nicht nur Ohren und Herzen berührt, sondern zugleich einen sozialen Impuls entfaltet. Zwei Bad Vilbeler Serviceclubs – der Lions Club Bad Vilbel-Wasserburg und der Rotary Club Bad Vilbel – haben genau das ermöglicht: Gemeinsam ist es ihnen gelungen, das international renommierte European Doctors Orchestra (EDO) für ein Benefizkonzert in die Stadthalle VILCO zu holen.
93 Medizinerinnen und Mediziner aus 17 europäischen Ländern versammelten sich in Bad Vilbel, um nicht nur Klangkunst auf beachtlichem Niveau zu bieten, sondern zugleich zwei bedeutende soziale Initiativen zu unterstützen: den Philip-Julius-Verein, der sich Familien mit schwer behinderten Kindern widmet, sowie den ASB-Wünschewagen, der letzte Wünsche schwerstkranker Menschen erfüllt.
Der organisatorische Aufwand war beachtlich – ein Mammutprojekt, getragen von Idealismus, Zusammenarbeit und Vision. Vertreter beider Clubs sowie des Orchesters bildeten ein engagiertes Team, um das Konzert mit Sorgfalt und Herzblut vorzubereiten. Das Programm wurde mit Bedacht gewählt: Zum Gedenken an den 200. Geburtstag von Anton Bruckner (2024) und den 150. Todestag von Georges Bizet (2025) erklangen Werke zweier Komponisten, deren Musik zugleich volksnah und tiefgründig, zugänglich und anspruchsvoll ist.
Unter der Leitung des bulgarischen Dirigenten Yordan Kamdzhalov entfaltete das European Doctors Orchestra eine klangliche Dramaturgie von seltener Intensität und befreiter Spielenergie. Kamdzhalov, ein Musiker von raumgreifender geistiger Präsenz und analytischer Klarheit, formte das Kollektiv aus Laien mit professionellem Anspruch zu einem Instrument der Ausdruckskraft – ein Ensemble, das nicht nur spielte, sondern atmete, schichtete, riskierte. Bereits in den ersten Takten war zu spüren: Hier war kein Konzert im herkömmlichen Sinne, hier war ein Bekenntnis – zur Musik, zur Menschlichkeit, zur Idee, dass Musik heilen kann.
Den Auftakt bildeten Auszüge aus den „Carmen“-Suiten von Georges Bizet – ein Werk, das allzu oft zur folkloristischen Kulisse verkümmert, wenn es ohne inneres Leuchten dargeboten wird. Doch unter Kamdzhalovs Hand verlor diese Musik nichts von ihrer tänzerischen Leichtigkeit und gewann zugleich eine unerwartete Wucht. Bereits im „Prélude“ glühte die Musik fieberhaft, die Musiker saßen sogleich mit höchster Energie auf der Stuhlkante. Schon in der folgenden „Aragonaise“ war das rhythmische Fundament präzise – jedoch nie mechanisch: das Tamburin federnd, das Blech gestaffelt wie Sonnenstrahlen, die durch bewegte Äste brechen. Im „Intermezzo“ sorgten Solomomente der Flöte, zart umspielt von der sensiblen Harfe, für Wonnemomente.

Kamdzhalov dirigierte mit kontrollierter Energie, führte das Orchester nicht von außen, sondern aus innerer Bewegung heraus. Seine Gestik war kein Befehl, sondern eine Einladung – zu differenzierter Artikulation, zu klanglicher Wachheit. So entstand in der „Les Toréadors“-Episode keine lärmende Festlichkeit, sondern ein präzise gebändigter Rausch, in dem sich die musikalischen Linien mit schneidender Klarheit übereinanderlegten.
Das Orchester überzeugte nicht durch laute Effekte, sondern durch kluge Dynamikarchitektur, das Spiel mit Spannungsbögen, das feinnervige Ausreizen rhythmischer Kontraste. Es war, als würde die Musik selbst tanzen – nicht die Musiker. Besonders die Abschnitte „Les Toréadors“ und das beschließende „Chanson bohème“ entfesselten mitreißende Wirkung. Das Publikum jubelte begeistert.
Nach der Pause betrat mit Anton Bruckners vierter Sinfonie ein ganz anderes Klanguniversum den Raum – eine Welt der gotischen Weite, aufsteigender Gewölbe, langsam sich entfaltender Klangmassen.
Kamdzhalov näherte sich dieser sogenannten „Romantischen“ nicht mit Pathos, sondern mit Ehrfurcht – und mit einer klaren Vorstellung organischer Entwicklung, die einen großen Bogen über das Werk spannte. Der erste Satz mit seinem berühmten Hornruf wirkte wie aus der Tiefe der Erde heraufgeholt. Das Horn – samtig, warm – erhob sich über einem Orchester, das nicht bloß begleitete, sondern atmende Landschaft formte. Die Streicher – mit einem zart vibrierenden Pianissimo beginnend – wuchsen mit geradezu geologischer Langsamkeit, bis sich aus dem Nichts eruptive Tutti-Explosionen entluden. Kamdzhalov modellierte diese Steigerungen mit weit ausholender Geste und mikroskopischer Präzision zugleich. Die Spannung wurde unermesslich gesteigert – und entlud sich spontan im prasselnden Applaus.
Im Andante schien sich die Zeit zu dehnen. Hier erklang keine bloße Elegie, sondern ein tastender Gang durch innere Räume. Die Celli sangen mit nach innen leuchtender Empfindsamkeit. Darüber legten die Flöten ein Licht, das nicht blendete, sondern schimmerte – wie durch Nebel. Der Satz lebte von den Spannungen zwischen Nähe und Distanz, zwischen Klang und Stille – und von einem Dirigenten, der den Mut hatte, die Musik bewusst ausatmen zu lassen.
Der dritte Satz, das sogenannte „Jagd-Scherzo“, kam mit einer Präzision, die schneidend war, aber nie hart. Die Holzbläser – quirlig, fast neckisch – konterkarierten das wuchtige Fundament des Blechs, das wie aus Granit gemeißelt klang. In der Trio-Passage wurde der Ton leichter, ohne ins Süßliche zu kippen – als zögen Schatten über ein helles Feld. Die Texturen blieben transparent, der Klang geerdet, nie ätherisch. Großartig, wie extrovertiert und sonor die geforderten Blechbläser pannenfrei aufspielten.
Der Finalsatz schließlich – oft ein Koloss, hier ein Monument in Bewegung. Kamdzhalov strukturierte ihn nicht als Ziel, sondern als Erzählung, die sich von Szene zu Szene spannte. Die Dynamik war von unerbittlicher Logik, die Übergänge modelliert wie in einer symphonischen Architektur, in der jedes Motiv seinen Platz fand – tragend, stützend, verbindend. Die Blechbläser – mit raumfüllendem Ton – krönten das Klanggebäude mit einer Majestät, die nicht prahlte, sondern ehrte. Und dann ein ganz besonderer Moment in der Coda: wie ein Mann stand das Orchester auf und spielte die finalen Takte stehend. Das Ende war kein bloßer Schlussakkord, sondern ein Gipfel – still, groß, unverrückbar.

Was dieses Konzert so besonders machte, war nicht allein die Qualität der Interpretation – die unstrittig war –, sondern der Geist, aus dem heraus sie entstand. Musik, die in jedem Moment wichtig und extrovertiert klang. Spieltechnisch wurden durchaus Grenzen berührt. Es spielten keine Profis, die ihr Handwerk perfektioniert haben, sondern Menschen, die ihre zweite Berufung zur ersten gemacht hatten – für diesen Moment. Ärztinnen und Ärzte, die mit Musik heilen wollten – ohne Worte. Und ein Dirigent, der sie nicht nur führte, sondern mit ihnen atmete, sie nährte, sie durchdrang mit Energie und Klarheit.
Dass ein solches Konzert möglich wurde, verdankte sich nicht allein der organisatorischen Finesse oder dem dirigentischen Charisma. Es war Ausdruck eines tiefen gemeinsamen Geistes: Die Musikerinnen und Musiker des European Doctors Orchestra verzichteten auf Honorar, nahmen Urlaub, reisten auf eigene Kosten – und brachten nicht nur ihre Instrumente mit, sondern auch ihre Erfahrung als Heilende, als Zuhörende, als Menschen, die wissen, was es heißt, Verantwortung zu tragen. In diesem Orchester erklang nicht nur Musik, sondern eine Haltung: europäisch, mitfühlend, verbindend. Einmal mehr bewährte sich dabei die vorzügliche Saal-Akustik der VILCO Stadthalle, die all dies ins beste Licht stellte.
Am Ende erhob sich das tobende Publikum nicht in bloßer Dankbarkeit, sondern in bewegter Anerkennung. Was in Bad Vilbel erklang, war mehr als ein Benefizkonzert. Es war ein Bekenntnis zur Idee, dass Musik verbinden, über Grenzen hinweg tragen und Sinn stiften kann – in jedem Ton, in jeder Geste, in jeder Stille dazwischen.
Gerührt bedankte sich Yordan Kamdzhalov beim hingerissenen Publikum. Seine Worte gipfelten in der Kernaussage: „Ich wünschte, die Welt wäre so wie dieses Orchester – voller Hingabe und Liebe!“ Und dann: eine improvisierte Zugabe. Noch einmal, mit besonderer Vehemenz: das „Chanson du Toréador“ aus Bizets „Carmen“.
Mit großer Begeisterung und rhythmischem Applaus des Publikums in den Marschteilen wurde das volle Auditorium ein letztes Mal reich beschenkt. Ein Konzert, das haften bleibt – eine Hörerfahrung von besonderer Tiefe, wie auch die hohe Aufmerksamkeit der Zuhörenden eindrücklich zeigte.
Dirk Schauß, 26. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD-Besprechung: David Schiff und Andrea Reinkemeyer klassik-begeistert.de, 24. Mai 2025
hr-Sinfonieorchester, Alain Altinoglu, Sebastian Berner, Trompete Alte Oper Frankfurt, 22. Mai 2025