Taras Shtonda und Ensemble © Monika Rittershaus
So geht modernes Regietheater! In seiner Inszenierung der Oper “Chowanschtschina” von Modest Mussorgsky realisiert der Regisseur Claus Guth eine packende Projektion des Konfliktes, der Ende des 17. Jahrhunderts um den Zarenthron entbrannt war. Dank einer exzellenten Sängerriege, eines großartig aufspielenden Orchesters und eines fulminanten Chores, alle unter der musikalischen Leitung von Timur Zangiev, erlebt man eine fesselnde Wiederaufnahme des komplizierten Werkes, das der Komponist durch seinen frühen Tod nicht selber fertigstellen konnte. Die Staatsoper Berlin spielt die von Dmitri Schostakowitsch instrumentierte Fassung.
Modest Mussorgsky (1839-1881)
CHOWANSCHTSCHINA
Volksdrama in fünf Akten (Text vom Komponisten)
Fassung von Dmitri Schostakowitsch mit dem Finale von Igor Stravinsky
Musikalische Leitung: Timur Zangiev
Inszenierung:  Claus Guth
Bühne:  Christian Schmidt
Kostüme:  Ursula Kudrna
Staatsoper Unter den Linden, 2. November 2025
von Jean-Nico Schambourg
Die Oper “Chowanschtschina” von Modest Mussorgsky selbst und deren Interpretation des Regisseurs Claus Guth an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin ist eine regelrechte Meditation über russische Geschichte. Sie basiert auf einer Episode großer Dramatik, die sich Ende des 17. Jahrhunderts zugetragen hat und aus derer schlussendlich der Zar Peter der Große als Sieger hervorgegangen ist.
Die Handlung der Oper von Mussorgsky erstreckt sich ebenfalls über die ganze Zeitspanne dieses Konfliktes zwischen Reformisten und Konservativen, zwischen Anhängern der zwei Thronanwärtern, Peter sowie seinem Halbbruder Iwan und dessen Schwester, der Regentin Sophia.
Im Zentrum des Werkes stehen verschiedene teils historische, teils fiktive Figuren, die den Machtkampf um den russischen Zarenthron aus jener Zeit austragen. Claus Guths Inszenierung ist hierbei eine Projektion der Vergangenheit in die Gegenwart, wo ein Team von Archivaren die geschichtliche Episode nachforscht. Die Kostüme von Ursula Kudrna und die Szenenbilder von Christian Schmidt verleihen der Oper einen historischen Aspekt.
Die Videoprojektionen (Roland Horvath), sowie die Bilder der Live-Kameras, die immer wieder auf Leinwänden oder im Hintergrund zu sehen sind, sind nicht störend. Im Gegenteil, sie helfen den Ablauf der doch manchmal arg disparaten Handlung besser zu verfolgen und die Zusammenhänge, auch mit der heutigen Zeit, zu verstehen.

Dieses beeindruckende Werk von Mussorgsky verlangt nach einer ganzen Reihe von erstklassigen Interpreten und die in Berlin aufgebotene Sängerriege hat keinen Schwachpunkt.
Mika Kares singt mit ausgezeichnetem Bass den autoritären und gewaltsamen Fürst Iwan Chowanski. Sein Sohn Andrei wird mit sicherem Tenor von Thomas Atkins gegeben.
Dessen verlassene Geliebte wird von Marina Prudenskaya gesungen. Ihr Mezzosopran besitzt die nötige stimmliche Flexibilität, um auch die Tiefen der Partie, die eigentlich einer Altstimme zugeschrieben ist, perfekt zu meistern. In den Liebesszenen mit Andrei bezirzt sie mit weichem einschmeichelndem Ton.
Taras Shtonda ist ein Dossifei wie man sich einen orthodoxen Religionsanführer im Idealfall vorstellt: von imposanter Statur mit dunkler, scheinbar grenzenlos kraftvoller Bassstimme.
Vielleicht könnte man sich für die Rolle des Fürsten Golizyn, einem Liebhaber der Regentin Sophia, eher eine schöne weiche Tenorstimme vorstellen. Allerdings passt der Charaktertenor von Stephan Rügamer perfekt zur Zeichnung dieses machtbesessenen Egozentrikers.
Mit knorrigem Bariton überzeugt George Gagnidze in der Rolle des intriganten Bojaren Schaklowity. Andrei Popov füllt stimmlich und szenisch die Rolle des Schreibers mit guter Stimme und auch viel Witz aus.
Evelin Novak als Emma und Anna Samuil als Susanna fügen sich ebenfalls perfekt in die Oper ein.

Am Dirigentenpult zeigt Timur Zangiev wie sehr er die Seele der russischen Musik in sich trägt. Die Staatskapelle Berlin folgt ihm dabei aufs Genaueste. Pompöse Blechbläser, einschmeichelnde Holzinstrumente, knallende Perkussion, schwirrende Seiteninstrumente: jede Instrumentengruppe fügt sich in das große Klangbild dieses schwierigen, von Mussorgsky nicht selbst vollendeten Werkes ein. Zangiev gelingt es, die manchmal roh erscheinende Instrumentierung, die von Schostakowitsch fertiggestellt wurde, zu einem großen Strom von Tönen mit Klippen zu bündeln.
Die größte Leistung des Abends soll aber am Schluss dieses Artikels beschrieben werden. Was der Staatsopernchor, vorbereitet von Dani Juris, an diesem Abend auf die Bühne bringt ist einfach umwerfend. Ob kreischendes aufmüpfiges russisches Volk, betende Altgläubige oder besoffene Strelitzen, der Chor meistert alle seine verschiedenen Rollen mit Bravour. Dabei besitzt jede dieser Gruppen auch noch seine eigene russische Sprache, die bewältigt werden muss.
Mehr noch als die Würdigung dieser Leistung per begeistertem Applaus beim finalen Vorhang, ist der Respekt des Publikums während dem Gesang des Chores hervorzuheben. So bei der großen Chorszene der Altgläubigen im letzten Akt, wenn diese sich fast ohne instrumentale Begleitung auf ihren Feuertod vorbereiten. Es herrscht im Zuschauersaal eine selten erlebte, fast andächtige Stille, die von keinem nervigen Huster gestört wird.
Da stockt dem Zuhörer der Atem und er lässt sich einfach von dem großartigen Gesang des Chores emotional überwältigen.
An diesem Abend erlebt man ein Gesamtkunstwerk wie man es sich jeden Abend in der Oper wünscht.
Jean-Nico Schambourg, 3. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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