Foto © Matthias Baus
Die Performance ist am Ende frech und lässt das Publikum vor dem Applaus singend aufstehen. Standing Ovations also? Es gibt viele, die begeistert sind. Für mich klappt die Verbindung zwischen Kurzoper und Performance nicht. Ich verspüre die mir am Ende aufgedrängte positive Energie der Befreiung, des „be it“, in keiner Faser meines Körpers zu keinem Zeitpunkt der Performance.
SANCTA
Opernperformance von Florentina Holzinger mit Paul Hindemiths Oper Sancta Susanna (Libretto: August Stramm), geistlichen Werken und Neukompositionen in deutscher, lateinischer und englischer Sprache
Uraufführung am 30. Mai 2024 Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin
Staatsoper Stuttgart, 05. Oktober 2024 PREMIERE
von Frank Heublein
In der Staatsoper Stuttgart wird an diesem Abend Sancta erstmals aufgeführt. Uraufgeführt wurde die Opern-Performance am 30. Mai 2024 in Schwerin gegeben. Was das für ein Abend ist?
Einer der mich an die Grenzen des Zusehens bringt, mich an die Grenzen des Ertragens bringt. Dazu passt das Ende des Abends für mich absolut nicht. Was passiert am Ende? Die Performerinnen und Chorsängerinnen – es stehen ausschließlich Frauen auf der Bühne – fordern das Publikum auf – ich fühle mich persönlich genötigt – den Refrain des Songs „Don’t dream it“ (…be it) des Musicals The Rocky Horror Picture Show mitzusingen. Was für mich nicht passt, wenn das heißt, dass ich folgendes „sein soll“ (be it): lass Dir in einer Live Performance zweimal den Haltestift einer kleinen Bergsteiger-Öse (oder einem vergleichbaren Element aus einem Sexshop) mit zwei Millimeter Durchmesser durch das Fleisch unterhalb der Schultern stechen – und das passiert hier live bei zwei Personen, eine davon ist Regisseurin und Performerin Florentina Holzinger selbst.
Hier verliert die Performance ein zweites Mal am Abend die moralische Erdung. Ich finde die beiden per Videogroßaufnahme gezeigten bewussten Körperverletzungen abstoßend (die zweite: ein kleines Stück Haut wird unterhalb der Brust per Skalpell entfernt). Ob diese die Performerinnen auf der Bühne aus Performancegründen ausführen und ausführen wollen, das ist ihre Sache. Mich als Teil des Publikums am Ende dazu aufzufordern, es ihnen gleich zu tun, widerspricht nach meinem Verständnis der Absicht der Performance. Denn ich verstehe Befreiung als das Thema. Mich befreit es nicht, meinen Körper aus „Performancegründen“ so stark zu verletzten. Das will ich nicht sein. Und davon träumen tue ich auch nicht.
Das erste Mal verliert die Performance die moralische Erdung, wenn versucht wird, Personen aus dem Publikum Beichtgeständnisse abzuringen. Denn Jesus steht ja auf der Bühne und verzeiht allen alles augenblicklich. Alles easy. „Wir sind ungeimpft“. Verziehen! Doch was wäre, wenn jemand „gesteht“, gestern daran gedacht zu haben, sich umzubringen? Hier zeigt sich die Widersprüchlichkeit der Performance. Denn folgten die Inszenierungsverantwortlichen ihrer Einstellung, alles aus Gründen der Befreiung tun zu dürfen, müsste mein Beispiel als Möglichkeit mitgedacht werden. Der von mir gesehene weitere Ablauf „ich-bin-Jesus-alles-ist-verziehen-ha-ha“ wäre im Beispiel katastrophal. Hätte die Performance anders re- und agiert? Ich habe Zweifel, die Performerinnen haben einen Plan, einen Flow und ziehen es von Anfang bis Ende durch.
Sancta ist an vielen Stellen ein Akt der Befreiung, mit dem ich nicht viel anfange. Die Performerinnen sind nackt. Immer. Natürlich ist Nacktsein auf der Bühne in dieser Performance ein Akt der Befreiung. So exzessiv eingesetzt verliert Nacktheit an Aussagekraft. So viel hat die dauerhafte Nacktheit in allem was ich tue mit Freiheit für mich nicht zu tun. Die körperliche Befreiung durch eigene Körperverletzung? Gestehe ich anderen zu, kommt für mich nicht in Frage.
Heavy (ist es Black?) Metal. It’s raining men. Eine Musicalperformance, nackt auf einer Art Trapez gesungen. Stimmlich toll. Szenisch gut. Insgesamt ist der Grad schmal: zählt für mich das, was ich sehe als Befreiung? Passt das als Antwort oder Argument zu Hindemiths Sancta Susanna? Für mich fällt die Performance eins ums andere Mal ins Sicherungsseil „wir haben und machen doch Spaß“. Verliert mir allzu oft die für mich verständliche und klare Orientierung, auf Hindemiths Sancta Susanna zu reagieren.
Das ist ein spannendes Sujet: Susanna ist die „Supernonne“. Daher wird sie die Heilige genannt. Durch zufälliges Verfolgen eines Liebesspiels erfährt sie ihre Körperlichkeit. Sie will sich befreien und wird deswegen von den anderen Nonnen verdammt. Von Sancta zu Satana – das ist die Handlung von Hindemiths fünfundzwanzigminütiger Einakteroper Sancta Susanna in Kürze. Aus meiner Wahrnehmung und entsprechend der Einführung heraus ist das der Faden, den die Performance aufnehmen will.
Die für mich stärkste Stelle: Saioa Alvarez Ruiz ist eine Schauspielerin, die sich selbstbestimmt als Frau mit Behinderung inszeniert. Mit dunkel timbrierter einnehmender Stimme als Papst markiert sie in dieser zugespitzten Performance einen brennenden Punkt. Befreiung von der Männerdominanz und des Normalen. Soziale und ästhetische Gewohnheiten werden in mir in diesem Augenblick in Frage gestellt.
Am Anfang der Performance wird Hindemiths Sancta Susanna aufgeführt. Mezzo Andrea Baker als Klementia und Sopran Caroline Melzer als Susanna überzeugen stimmlich wie dramatisch. Beide kernig, die Tiefen der Emotionalität auslotend: überzeugt strahlend, zurückgenommen zweifelnd zögernd, ängstlich, entsetzt. Das währenddessen kopulierende lesbische Performance-Paar im Hintergrund der Bühne als Sinnbild Susannas sündigen Gedankens vollziehe ich nach. Doch das changiert für mich zwischen Sinnbild und Provokation. Ganz im Gegensatz zu Caroline Melzer. Sie setzt Nacktheit als fulminantes Zeichen ein. „Ich bin schön“ singt sie und lässt singend die Kutte fallen. Das hat starke Wirkung! Das Staatsorchester Orchester zaubert bei Hindemiths Kurzoper stimmfarblich schillernde Atmosphäre unter Dirigentin Marit Strindlund.
Wie anfangs erwähnt: die Performance ist am Ende frech und lässt das Publikum vor dem Applaus singend aufstehen. Standing Ovations also? Es gibt viele, die begeistert sind. Für mich klappt die Verbindung zwischen Kurzoper und Performance nicht. Ich verspüre die mir am Ende aufgedrängte positive Energie der Befreiung, des „be it“, in keiner Faser meines Körpers zu keinem Zeitpunkt der Performance.
Frank Heublein, 6. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
SANCTA SUSANNA Op. 21, Komposition Paul Hindemith, Text August Stramm, uraufgeführt 1922 am Opernhaus Frankfurt am Main
MESSE, Komposition (Credo, Benedictus, Agnus Dei) und Arrangement der Mess-Sätze von Johann Sebastian Bach (Kyrie aus Messe h-Moll BWV 232), Sergej Rachmaninow („Ehre Gott in der Höhe“ aus der Ganznächtlichen Virgil op. 37) und Charles Gounod (Sanctus aus Messe solennelle en l’honneur de Sainte Cécile)
Komposition und Arrangements Johanna Doderer
Komposition und Supervision Bühnenmusik Born in Flamez
Komposition und Sound Design Stefan Schneider
Komponistin und Produzentin Nadine Neven Raihani
Weitere Kompositionen otay:onii, Odette T. Waller, Karl-Johann Ankarblom, Gibrana Cervantes, Christopher Kandelin, Josephinex Ashley Hansis
Besetzung
Musikalische Leitung Marit Strindlund
Regie und Choreografie Florentina Holzinger
Bühne und Kostüme Nikola Knežević
Lichtdesign Anne Meussen mit Max Kraußmüller
Videodesign Maja Čule
Chorleitung Manuel Pujol
Dramaturgie Felix Ritter, Fernando Belfiore, Judith Lebiez (Schwerin), Michele Rizzo, Miron Hakenbeck (Stuttgart), Philipp Amelungsen, Renée Copraij, Sara Ostertag
Performance von und mit
Andrea Baker (Klementia), Annina Machaz, Blathin Eckhardt, Born in Flamez, Caroline Melzer (Susanna), Emma Rothmann (Alte Nonne), Fibi Eyewalker, Fleshpiece, Florentina Holzinger, Gibrana Cervantes, Jasko Fide, Laura London, Luz De Luna Duran, Malin Nilsson, Netti Nüganen, otay:onii, Paige A. Flash, Renée Copraij, Saioa Alvarez Ruiz, Sara Lancerio, Sophie Duncan, Veronica Thompson, Xana Novais
Sängerinnen des Staatsopernchores
Staatsorchester Stuttgart
La Fest von und mit Eric Gauthier Staatsoper Stuttgart, 19. Januar 2024
Leoš Janáček, Jenůfa Staatsoper Stuttgart, 12. November 2023
Antonio Vivaldi, Juditha triumphans, Staatsoper Stuttgart, 12. März 2022
Habe die Aufführung gestern gesehen und schließe mich dieser Kritik Frank Heubleins zu 100% an.
Gestern wurden zudem mindestens drei Opernbesucher ärztlich im Sanka betreut. Ob sie sich befreit fühlen?
Martina Hermle
Befreiend finde ich die Kritik von Frank Heublein, da ich ähnlich empfunden habe, aber um mich rum lauter total Begeisterte vorfand, d.h. vor mir ist eine Frau ohnmächtig geworden. Ich habe mir diese körperlichen Ekelfilmchen gar nicht angeguckt, kann sowieso nie verstehen, weshalb sich Menschen freiwillig Schmerzen zufügen (die ganzen Tattoos). Kopf- und Zahnweh im Laufe eines Lebens und 2 Geburten haben meinen Bedarf reichlich gedeckt. Ich habe mich gefragt, ob ich mit meinen 75 eben so abgebrüht bin, dass mich jetzt nichts mehr aus dem Opernsessel reißen kann, aber ich finde auch diese Zirkusnummern, wo jemand aus dem Publikum was machen soll – da geh ich woanders hin, wenn ich das erleben will, nicht in die Oper (fand ich auch in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny daneben). Leider fand ich auch die 2 Sängerinnen am Anfang nicht wirklich überzeugend. Ihr Tremolo erschien mir wie vom vorigen Jahrhundert. Da ich schon ewig aus der katholischen Kirche ausgetreten bin, langweilt mich vielleicht auch das Thema. Ich hoffe, dass die Frauen, die lange mit dem Kopf nach unten agieren mussten, keine gesundheitlichen Schäden davon tragen.
Gudrun Heinl
Ich kann verstehen, dass Kritik geäußert wird und finde – auch wenn meine persönliche Erfahrung im Stück wirklich eine andere war – dass hier Kritik differenziert geäußert wird.
Was ich allerdings wirklich bedenklich finde, ist, wie hier über die Behinderung einer der Performerinnen spekuliert wird. Woher die Annahme, dass sie mit Glasknochen lebt? Diese Annahme sowie der Umstand, dass die Art der Behinderung für ihre Rolle in der Oper nicht wichtig ist, ist hochgradig ableistisch. Wann fangen wir an, bei behinderten Performerinnen die Behinderung nicht mehr als erstes zu erwähnen? Wann können behinderte Performerinnen für ihre Arbeit gesehen werden? Und warum trauen sich Kritiker ohne Scham, über die Behinderung einer Form – eine sehr persönliche Info – zu spekulieren und öffentlich darüber zu schreiben?
Ich freue mich auf eine gute und faire Diskussion in den Kommentaren.
Katrin Lorenz
Hallo Frau Lorenz,
die Art der Einschränkung von Saioa Alvarez Ruiz ist in der Tat nicht relevant. Inszenatorisch relevant ist die Einschränkung an sich, sie verschärft und extremisiert die Gegenüberstellung der normalen Vorstellung und Definition einer Person, die Papst werden kann.
Saioa Alvarez Ruiz nutzt während der Perfomance einen Rollator. Ihr wird im Laufe der Performance sehr sorgfältig ein Stützkorsett angelegt, bevor sie an den Gelenkarm – die Szene ist im zum Absatz gehörigen Foto zu sehen – montiert wird oder sich selbst daran befestigt, das entzieht sich meiner Erinnerung. Ich bin mit anderen Personen befreundet, die mit Glasknochenkrankheit zu leben haben. Ich hatte also einige Indizien vorliegen, über die Art der Einschränkung zu spekulieren. Die sind allerdings in einer Rezension nicht unterzubringen sind. Die Einschränkung von Saioa Alvarez Ruiz kenne ich nicht. Daher – wie bereits oben gesagt – ist die Spekulation fehl am Platze.
Ich nehme Ihre Kritik auf und notiere zur Dokumentation die ursprüngliche und die geänderte Fassung:
Ursprünglich:
Die für mich stärkste Stelle: Saioa Alvarez Ruiz ist eine durch Glasknochenkrankheit – so nehme ich an – eingeschränkte Frau mit dunkel timbrierter einnehmender Stimme als Papst. Hier markiert die zugespitzte Performance einen brennenden Punkt.
Geändert:
Die für mich stärkste Stelle: Saioa Alvarez Ruiz ist eine Schauspielerin, die sich selbstbestimmt als Frau mit Behinderung inszeniert. Mit dunkel timbrierter einnehmender Stimme als Papst markiert sie in dieser zugespitzten Performance einen brennenden Punkt.
Saioa Alvarez Ruiz beeindruckt mich inhaltlich und in dem was sie und wie sie es tut. Ich sehe die angesprochene Szene, die Saioa Alvarez Ruiz performt, als stärkste Stelle der Performance. Das schreibe ich explizit. Insofern kann ich Ihren Satz bzw. Ihre Kritik „Wann können behinderte Performerinnen für ihre Arbeit gesehen werden?“ für das was ich schreibe nicht nachvollziehen.
Ihr Ausdruck „ohne Scham“ unterstellt mir eine bewusste absichtliche Weise, eine Spekulation über die Art der Einschränkung in die Welt zu setzen. Das ist nicht Fall.
In der Performance werden zum Teil sehr persönliche Offenbarungen von den Performerinnen veröffentlicht. Eine Performance soll Reaktionen darauf provozieren. Die Performance lässt mich nicht kalt. Ich will mich damit auseinandersetzen. Daher schreibe ich eine Rezension, das ist meine Reaktion und Auseinandersetzung auf die Performance. Wie persönlich, spekulativ und interpretatorisch darf ich werden und bei was alles? Ich stelle mir diese Fragen bei jeder meiner Rezensionen. Und gestehe ein: ich bin nicht fehlerfrei.
Ich unterstütze den universalistischen Ansatz von Antirassismus, der das Ende von Diskriminierungen und das Recht auf Gleichgültigkeit beinhaltet (siehe Caroline Forest „Generation beleidigt“, Edition Tiamat, 2020, hier S. 52).
Frank Heublein
Sehr geehrte Herr Heublein,
danke für den ausführlichen Kommentar und die Änderung. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich in der ursprünglichen Fassung nicht absichtlich ableistisch geäußert haben – „ohne Scham“ bezieht sich dennoch darauf, dass es offenbar nicht intuitiv selbstverständlich ist, nicht über medizinische Diagnosen – eine extrem sensible und persönliche Information – zu spekulieren. Daher braucht mein Satz „Wann können behinderte Performerinnen für ihre Arbeit gesehen werden?“ die Ergänzung „ohne, dass eine medizinische Diagnose genannt wird“, um ihn zu verstehen, das war meinerseits unklar formuliert.
Und wie Sie schreiben, da stimme ich zu: dass Saioa Alvarez eine Behinderung hat, ist in der Szene relevant. Welche Behinderung das ist, aber nicht. Das Korsett am Roboter wird aus Sicherheitsgründen angelegt und auch jede nicht-behinderte Performern müsste es für die Szene tragen.
Dass die Szene die stärkste des Stückes ist, ist auch mein Empfinden. Ich habe das Stück bisher drei Mal gesehen und hatte jedes Mal den Eindruck.
Ich empfehle hier noch eine Leitfäden der Leidmedien. Die Leidmedien beraten Medienschaffende zum Thema antiableistische Berichterstattung und haben sehr gute Materialien dazu. Darin sind Formulierungshilfen sowie gute und schlechte Beispiele zu finden.
https://leidmedien.de/leitfaeden/
Beste Grüße,
Katrin Lorenz
Ich war in Sancta und habe mich ehrlich gesagt gelangweilt. Nur kitschige Klischees, wie in einem US-Kinofilm über geil gewordene Nonnen. Alles ohne tieferes Verständnis für Religionen (Christentum, Judentum, Buddhismus, Islam), für Transzendenz und Glauben. Dass das Frauenbild über Jahrhunderte hinweg, besonders in der katholischen Kirche mehr als kritikwürdig ist, wurde auch schon lange zuvor in der Literatur und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts (und selbst in Wagners Parsifal) unzählige Male deutlich und viel differezierter thematisiert. Um dies zu wissen, brauche ich also nicht noch zusätzlich ein solches Machwerk. Und dazu noch die Musik Bachs, der in seinen Passionen, Messen und Kantaten in jeder Note den christlichen Glauben in unfassbarer Tiefe zelebriert, zu missbrauchen, geht mir einfach zu weit. Man sollte auch bedenken, dass etwa im Islam Frauen und ihre körperliche Sebstbestimmung genauso unterdrückt werden. Aber das zu thematisieren getraut sich die Oper Stuttgart natürlich nicht – wohl aus Furcht vor gewalttätigen Protesten. Da ist das in Deutschland heute ohnehin kaum noch existente Christentum wohl ein viel weicheres Ziel für die Opermacher. Und hier beginnt für mich auch das Verlogene oder Feige an der Sache.
P.S.: Wie auch vorherige Kommentatoren schon schrieben, fühlte ich mich bei der Aufforderung am Ende, als Publikum Hymnen mitsingen zu müssen, etwas „vergewaltigt.“ Vergessen wir nicht, dass das Publikum im Nationalsozialismus aufgefordert wurde, nach den Meistersingern das Deutschlandlied mitzusingen. Auch wenn dieser Vergleich natürlich hinkt, habe ich bei solchen Aktionen immer das ungute Gefühl, als
Zuhörer für irgend etwas ideologisch vereinnahmt zu werden. Kunst ist ein Spiegel ihrer Umgebung – aber sie bleibt dabei, wie in Sancta, auch immer ein Spiegel ihrer selbst.
Eberhard Klotz
Sehr geehrter Herr Klotz,
wie Sie den biografischen Erzählungen der Performerinnen auf der Bühne sicher entnehmen konnten, ist ein Großteil von ihnen christlich aufgewachsen und kann entsprechend genau das kritisieren oder schöne Erlebnisse teilen – beides passiert ja im Stück. Performance ist eben nicht Schauspiel und es wird damit gearbeitet, was die Peformerinnen mitbringen.
Auch Hindemiths Oper „Sancta Susanna“, die vor 103 Jahren in Stuttgart uraufgeführt werden sollte, aber verhindert wurde, befasst ich mit dem Christentum. Und auch wenn sich im 19. und 20. Jahrhundert mit Weiblichkeit und Kirche auseinandergesetzt wurde, lässt sich nun wirklich nicht sagen, dass nicht auch im 21. Jahrhundert mit schockierender Regelmäßigkeit neue Verknüpfungen von Kirche und sexualisierter Gewalt auftauchen. Das Thema ist leider nicht fertig bearbeitet.
Umso erschreckender finde ich es, dass Sie das Wort „vergewaltigt“ verwenden, wenn es ums Aufstehen und Singen geht. Das ist nicht zu vergleichen mit einer Vergewaltigung und verwässert jegliche Erfahrung einer tatsächlichen Vergewaltigung. Auch Vergleiche mit dem Nationalsozialismus zu ziehen, ist bestenfalls geschmacklos. Sie wissen sicher, dass das SANCTA-Team international ist und fast niemand mit Nazi-Vorfahren aufwuchs.
Nicht jeder muss performative Kunst mögen, zu der eine gewisse Echtheit gehört. Es ist auch erlaubt, sich gespielte Darstellungen von Gewalt in jeder klassischen Oper anzusehen. Vielleicht ist das dann weniger langweilig.
Beste Grüße
KaLo