La Fest in Stuttgart: Lange dauert's, bis ich mich ins Fest fallen lassen kann

La Fest von und mit Eric Gauthier  Staatsoper Stuttgart, 19. Januar 2024

Foto: Louis Buß / Foto Matthias Bau

La Fest 
„Oper als barocke Feier des Lebens
von und mit Eric Gauthier“

Staatsoper Stuttgart, 19. Januar 2024

von Frank Heublein

In der Staatsoper Stuttgart wird La Fest gegeben. Was das für ein Abend ist? Eine Oper? Nein. Es ist eine Mischung aus Gesang und Tanz, ertüftelt von Eric Gauthier, der als Ballettchoreograf erstmals im Musiktheater Regie führt. Er gauthiersiert Musiktheater. Der Untertitel von La Fest weist die Richtung: „Oper als barocke Feier des Lebens von und mit Eric Gauthier“. Eric Gauthiers Spielkind in ihm platzt mindestens auf der Bühne aus ihm heraus.

Für mich als Zuschauer hat dieser Abend vier Teile. Der erste ist „das Aufwärmen“. Während viele im Parkett sich fragen, warum denn die Türen sich lange nicht öffnen, geht es auf der Ebene des ersten Rangs umtriebig zu. Barock verkleidete Gestalten und aufgebrezelte Menschen stellen sich als Aufwärm-Personal heraus. Ich komme ins Gespräch. Es gibt eine La Fest Fotowand für Selfies. Manch einer der Besucher merke ich ihre mein Herz erwärmende Unbeholfenheit vor dieser Wand an. Im ersten Stock also ist schon Fest. Es wird flaniert, parliert, geguckt. Der Luftballonmann, der aneinandergeknüpfte Ballone durch die Flaneure trägt, sich in den Ballonen verheddert. Nicht wie auf einem Fest, sondern es ist ein Fest. Das ist Gauthiers Konzept.

Benjamin Bayl / Foto: Matthias Baus

Der zweite Teil ist „das Einheizen“. Das ist der Gauthierteil an diesem Abend. Es ist sein erstes Mal „Opernregie“ („seit sechs Wochen bin ich Opernregisseur“). Er will allen, die möglicherweise ebenso ein erstes Mal im Opernhaus sind, von seinem ersten Mal erzählen. Er stellt die Solisten vor, ebenso das Orchester, den Dirigenten, den Opernchor und seine Kollegen hinter der Bühne. Er ist ein charmierender, locker flockig spitzbübischer, lebensfroher und dem Leben, dem Fest zugewandter Moderator.

Dieser Teil hat für mich Länge, wenngleich schöne Details aufscheinen wie etwa, dass zu Barockzeiten der Publikumssaal von Licht erfüllt war, wie die Untertitelungsanlage schäkernd fabulierend mitteilt. Wenn Tenor Alberto Robert und der Staatsopernchor mit dem Publikum eine Gesangseinlage übt. Alberto übt mit mir, mit uns, wie der Mund ein gesanglich „richtiges A“ formt. Das Publikum ist Teil des Festes, Gauthier will es hineinziehen in den Abend. Es soll aktiver Teil des Festes sein. Klappt für mich in Momenten sehr intensiv. Auf Länge dieses Teils bin ich nicht im Flow, werde ich nicht in den Bann gezogen.

Der dritte Teil ist der offizielle, der Opernteil. Ich nenne ihn „das Durchlauferhitzen“. Eric Gauthier sagt, es geht um eine Frau, die an ihrem achtzigsten Geburtstag auf ihr Leben zurückblickt. Ich erlebe Stationen ihres Lebens. Ihre Geschichte bleibt ein laxer Rahmen, der für mich die Klammerfunktion des zusammengeführten barocken Opernmaterials aus Frankreich, England, Deutschland und Italien nur mangelhaft erfüllt. Ich kann die Nummern nicht wirken lassen auf mich. Weil ich straff durchgeführt werde. Nummer folgt auf Nummer. Emotional verspüre ich keine Höhepunkte – bis auf das Ende.

Diana Haller, Natasha Te Rupe Wilson; 2023 / Foto: Matthias Baus

Dabei gäbe es Momente, die ich länger festhalten wollte in mir und nicht gleich emotional abgelenkt werden wollte. Leonardo Vincis (nicht da Vinci) Eifersuchtsduett Ama chi t’odia aus der Oper Gismondo, Re di Polonia singen und spielen Mezzosopranistin Diana Haller und Sopranistin Claudia Muschio energiegeladen, giftig und zickig. Claudia Muschios Sopran strahlend „blau“. Diana Haller Mezzo warm „rot“. Am Ende gehen sich stark gespielt gegenseitig an die Gurgel. Toll.

Das Quartett Mezzo Diana Haller, Sopran Natasha Te Rupe Wilson, Counter Yuriy Mynenko und Bariton Yannis François interpretieren Cavallis Pur ti stringo aus der Oper Eliogabalo. Besonders Natasha Te Rupe Wilson und Yannis François versprühen singende Harmonie. Der klare reine Sopran verschmilzt mit dem dunklen sanften Timbre des Baritons.

Rosalia Pace, Alessio Marchini, Cindy Martinez, Jonathan Reimann, Aycan Ersal, Matthias Kass, Chiara Viscido, Louis Buß; Foto: Matthias Baus

Weniger intensiv erlebe ich Stücke, in denen Tanz und Gesang verschmelzen sollen. Die Partyspiele ziehen sich hin. Das Vermögen der Tänzer und Tänzerinnen blitzt auf, doch ich kann mich des Gedankens nicht entziehen, dass sie ihr Vermögen, ihre Kunst nicht im vollen Umfang zeigen dürfen. Das Konzept lässt es nicht zu, Gauthier packt so viel in diesen Abend, mir bleibt zeitlich zu wenig Raum der inneren Wirkung nachzuspüren. Es geht darum, gemeinsam ein Fest zu erleben. Einzutauchen. Voller Fokus aufs Er-Leben. Das reibt sich in diesem Teil mit meiner Rolle als beobachtender nachspürender Rezensent.

Der gesangliche Höhepunkt ist für mich die letzte Arie des Teils. Mezzosopranistin Diana Haller, im zweiten Teil noch nicht völlig warmgesungen, interpretiert Nicola Porporas Alto Giove aus der Oper Polifemo. Was für ein starker intensiver Moment! Nymphe Galateas Liebhaber Akis wurde gerade durch ihren Mann und Zyklopen Polyphem erschlagen. Galatea besingt diesen Verlust. Den tiefen Schmerz der Nymphe singt Diana Haller mit einer Wärme, einer zwischen Zartheit und Verzweiflung changierenden Kraft. Wunderschön. Ein Strahl verlorener Liebe. Diesen Moment darf ich in mir lang einwirken lassen, denn die Arie ist das Ende dieses Teils.

Foto: Frank Heublein

Der vierte Teil ist „das Schwitzen“. In ihm finde ich meinen Groove. Eine andere Sphäre. Wummernde Bässe, Lars Eidinger ausgestellt auf der Bühne, die für tanzende Menschen verbotene Zone ist. Schade. Auch für ihn, wie ein Gespräch am Folgetag ergibt im zufälligen Aufeinandertreffen am Bahnhof.

Also heißt es in den Sitzreihen so gut tanzen wie es bei den engen Stuhlabständen eben geht. Hier endlich kann ich den Blick des Beobachters ablegen, hier bin ich ganz Tanzender. Dem Filmzitat aus L.A. Story folgend „lass deinen Geist fallen, dein Körper wird folgen“. Auch arriviertes Opernpublikum schwingt mit dem, was da eben noch so schwingen kann. In diesem Teil bin ich glücklicher Teil der Masse. Bis halb zwölf tanze ich. Ein gutes Publikumsdrittel bleibt mit mir bis zum Ende. Wir singen gemeinsam mit Reinhard Mey und Lars Eidinger „Gute Nacht Freunde“, beschließen so den Abend. Ich komme nicht darauf, mir die Frage „Wie passt das denn zusammen?“ zu stellen. Das funktioniert in diesem La Fest Fest sehr gut.

Ein Versprechen Eric Gauthiers im zweiten Teil wird mir im dritten Teil nicht erfüllt: dass er das Staatsorchester Stuttgart aus dem Graben nach oben hole, auf das ich sehe, was im Orchester alles passiert. Dafür ist es zu weit im Hintergrund. Zweifach. Einerseits physisch. Andererseits spielt das Orchester in dem Konzept des Abends aus meiner Sicht eine untergeordnete Rolle.

Im dritten Barockopernteil kommt eine mich elektrisierende Bindung zwischen Orchester und Solisten nicht zustande. Die Handlung, die Lebensgeschichte der alten Dame, spielt wider mein Erwarten kaum eine Rolle bei dem, was da auf der Bühne passiert. Orchestermusikalisch muss das  Komponistenpotpourri zusammengehalten werden. Daraus eine musikalische Linie zu erzeugen, gelingt in meinem Ohr an diesem Abend durch Glättung. Dadurch fehlt es mir zuweilen an Ausdifferenzierung orchestraler Stimmfarben.

Das Orchester hat auch keine Chance, Stimmung zu illustrieren, etwa durch den pointierten Wechsel der Tempi. Das Orchester ist der einzelnen Arie, dem Duett, dem Quartett, dem Tanz nachgeordnet. Immer nur weiter zur nächsten Nummer.

Der wunderbare Staatsoperchor Stuttgart weiß mich zu beglücken. Nur darf er das an diesem Abend selten, finde ich. Welch starke Präsenz. Ein warmer voller Klangkörper.

Was ich an diesem Abend drei Teile lang nicht schaffe und feststecke in der Rolle des Beobachters, des Rezensenten: mir gelingt das Fallenlassen ins Fest erst zum Schluss mit DJ Lars Eidinger. Das liegt sowohl am Regiekonzept des Abends als auch an mir.

War es ein schönes Fest für mich? Klingt es verrückt nach all dem Dargestellten? Ja, klar.

Frank Heublein, 20. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Programm

La Fest – Oper als barocke Feier des Lebens von und mit Eric Gauthier

Besetzung

Musikalische Leitung   Benjamin Bayl
Regie und Choreografie   Eric Gauthier
Bühne   Susanne Gschwender
Kostüme   Gudrun Schretzmeier
Dramaturgie   Carmen Kovacs, Miron Hakenbeck
Licht   Mario Daszenies

Chor   Manuel Pujol

Sopran   Claudia Muschio, Natasha Te Rupe Wilson
Mezzosopran   Diana Haller
Countertenor  Yuriy Mynenko
Teno  r Alberto Robert
Bariton   Yannis François

Tänzerinnen   Aycan Ersal, Rosalia Pace, Sidney Elizabeth Turtschi, Chiara Viscido
Tänzer   Louis Buß, Matthias Kass, Alessio Marchini, Jonathan Reimann

Staatsorchester Stuttgart
Staatsopernchor Stuttgart

Leoš Janáček, Jenůfa Staatsoper Stuttgart, 12. November 2023

Antonio Vivaldi, Juditha triumphans, Staatsoper Stuttgart, 12. März 2022

Die Verurteilung des Lukullus von Paul Dessau, Staatsoper Stuttgart, 13. November 2021

Richard Wagner, Der fliegende Holländer, Staatsoper Stuttgart, 3. Juli 2019

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