Rachmaninow und Brahms beschließen fulminant die Lübecker Konzertsaison

9. Symphoniekonzert in der Lübecker Musik- und Kongresshalle  27. Juni 2022

Ein würdiger Abschluss der Saison in Lübeck mit seinem großartigen Orchester, seinem hochengagierten Leiter und einer Solistin, die man hier öfter begrüßen möchte.

Stefan Vladar, Photo: Jan Philip Welchering

9. Symphoniekonzert
in der Lübecker Musik- und Kongresshalle,
27. Juni 2022

Sergei Rachmaninow, Die Toteninsel op. 29 und „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ für Klavier und Orchester

Johannes Brahms, Symphonie Nr. 4 e-Moll op. 98

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Stefan Vladar, Dirigent
Yulianna Avdeeva, Klavier


von Dr. Andreas Ströbl

Anders als es der Titel des ersten Stückes, „Die Toteninsel“, vermuten ließ, gestaltete sich das 9. Symphoniekonzert in der Lübecker „MuK“ (Musik- und Kongresshalle) ausgesprochen lebendig und weitab jeglicher Düsternis. Allerdings weht gerade bei den beiden Werken von Sergei Rachmaninow unverkennbar immer wieder eine Mahnung vor dem Jüngsten Gericht in die Welt der Lebenden hinein.

Das gleichnamige Gemälde von Arnold Böcklin, von dem es fünf Variationen gab, hat ikonischen Charakter und wer Rachmaninows Tondichtung noch nicht gehört hat, kennt das Bild. In dessen Zentrum findet sich nur die Dunkelheit der dichten Zypressen und es entsteht der Eindruck, die Toten würden nach ihrer Überfahrt auf die Insel in ein schwarzes Loch gezogen.

Der Komponist hatte allerdings nur eine Schwarz-Weiß-Reproduktion des Gemäldes gesehen und später bemerkt, dass ihn das Original wohl weniger angesprochen hätte, weil ihn gerade die graue Düsternis faszinierte. Tatsächlich aber hat er die Farbe in seine Umsetzung hineinkomponiert und es steckt so viel Lebendiges, ja leidenschaftlich Bewegtes darin, was die Blickrichtung von der Schwärze des Inselherzens immer wieder zurück in das Leben führt.

Von der Struktur her sind es drei ineinander übergehende Sätze, die das Meer bzw. die Überfahrt, die Insel selbst und den Tod darstellen. Geradezu leitmotivisch erscheinen die Ruderschläge Charons im 5/8-Takt, der die Toten über das Wasser bringt, während der Tod selbst durch das Dies-Irae-Motiv in Erscheinung tritt.

Sowohl bei Böcklin als auch bei Rachmaninow ist es nicht der Fluss Styx und das Totenreich liegt nicht an einem jenseitigen Ufer, sondern eine in sich abgeschlossene Grab-Topographie ragt inmitten des Meeres auf. Das durchschwamm GMD Stefan Vladar mit entschieden ausgreifenden Armen und riss das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck zu großem Ausdruck mit stets ausgefeilter Berücksichtigung der subtilen Details mit. Die hob Vladar mit Mimik und Körpereinsatz hervor: Mehrfach stand er kerzengerade und signalisierte mit knappen, zackigen Handweisungen entsprechende Einsätze, um dann wieder in tänzerische, biegsame Leichtigkeit zu wechseln.

Schon durch diese Umsetzung und eben musikalisch wurde die Morbidität immer aufs Neue gebrochen sowie durch sehr versöhnliche Momente des Einverständnisses mit dem eigenen Ende, das in der Retrospektive auf ein erfülltes Leben akzeptiert wird. Zitterndes Beben durch die Violinen erzeugte leichte Frostmomente, die aber in der Wärme des Aufgehens in eine nicht bedrohlich wirkende Dunkelheit schließlich relativiert wurden. Das durch die Farbigkeit, Stimmungs- und Dynamikwechsel sehr heterogene Werk erfuhr in der Lübecker „MuK“ eine brillante Umsetzung, was erneut die großartige Zusammenarbeit von Dirigent und Orchester bewies. Bereits nach diesem Stück gab es begeisterten Applaus.

In seiner Paganini-Rhapsodie zeigt Rachmaninow alle Facetten seiner Freude am Variieren und zwar mit größter Freiheit und teils skurrilen Einfällen. Für dieses solistisch hochanspruchsvolle Stück konnte die Pianistin Yulianna Avdeeva gewonnen werden. Zupackend und resolut vom ersten Anschlag an stapfte, wanderte, tänzelte, jagte die russische Pianistin durch die 24 Variationen, blickte immer wieder fast versonnen in den Raum, als sähe sie den von ihr entlockten Tönen nach und suche in ihrem Inneren bereits die folgenden. All das geschah ohne jede Attitüde, sie ging völlig in der Musik auf, bei vollster Aufmerksamkeit und Akkuratesse, stets in Einklang mit dem sichtlich und hörbar begeisterten Orchester.

Auch hier erscheint das Dies-Irae-Motiv, was programmatisch auf den von Rachmaninow bei der Komposition imaginierten Pakt Paganinis mit dem Teufel und den damit drohenden Tod verweist. Mögliche Finsternis kam aber gar nicht erst auf, denn das energische, manchmal kecke Spiel der Pianistin mit den perlenden Läufen entwickelte eine lebensbejahende Rasanz, um sich dann wieder sanft und schmiegsam zu reduzieren. Das gilt auch für die sicher berühmteste Melodie Rachmaninows in Variation 18, die in zahlreichen Liedern und Filmen rezipiert wurde, und die seinen Ideenreichtum hier träumerisch-romantisch aufs Neue offenbart. Das Spiel mit Ernst und Humor, mit großen Formen und Petitessen macht dieses Stück aus; Yulianna Avdeeva schmiss die Töne in den Saal oder entließ kleine silberne Sterne aus dem Flügel – was für eine überzeugende Interpretation dieses komplexen Werks!

Yulianna Avdeeva, Photo: Christine Schneider

Den sympathischen Eindruck verstärkte die Solistin nach dem brandenden Applaus durch die Zugabe, eine Bagatelle des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov im Ton eines traurigen Wiegenliedes, die sie all den Menschen widmete, die derzeit unter dem russischen Terror zu leiden haben.

Im zweiten Teil gab es Brahms’ 4. Symphonie und wer meinte, sich an diesem allzu oft gespielten Stück längst satt gehört zu haben, wurde eines Besseren belehrt. Gerne wurde schon das Eingangsmotiv parodiert, indem man es mit Texten wie „Mir fällt mal wieder gar nichts ein“ singend unterlegte, aber Vladar und die Lübecker hauchten bereits dem ersten Satz eine flotte Frische ein. Gleich fließenden Wellen erhielt diese Musik eine muntere Bewegung und kraftvolle Aufladung.

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck, Photo: Jan Philip Welchering

Ein paar unwissende Klatscher gibt es leider auch in Lübeck, aber die wurden gleich wegignoriert und rasch der zweite Satz angestimmt, wunderbar entstaubt, leicht wehmütig und nicht zu langsam. Der reizvolle Wechsel nach Dur, den die Hörner aufnehmen, erfuhr einen schönen Akzent, der Schluss hatte wirklich Anmut.

Froh heraus sprang der Beginn des dritten Satzes, dessen beschwingte, mitreißende Freudigkeit ansteckend wirkte und vor dessen Hintergrund der Finalsatz am Anfang ausgesprochen spannungsreich geradezu tragisch-drohend klang. Die Schicksalsschwere erfährt hier keine heitere Auflösung, die Symphonie endet ernst und schroff.

Ein würdiger Abschluss der Saison in Lübeck mit seinem großartigen Orchester, seinem hochengagierten Leiter und einer Solistin, die man hier öfter begrüßen möchte.

Dr. Andreas Ströbl, 29. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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