Foto: Andrew Manze und die NDR Radiophilharmonie
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Was bleibt vom „Phil & Chill“-Event? Kurz gesagt, viele bunte Impressionen und ein langer aber kurzweiliger Konzertabend im Zeichen musikalischer Vielfalt. Wer viel Tagesfreizeit hat, diskutiert weiter über E und U. Jeder, der offen ist, genießt Brahms und tanzt zu LEA.
Hannover, Großer Sendesaal und Foyer des NDR, 23. Feburar 2019
NDR Radiophilharmonie
Andrew Manze Dirigent
JOHANNES BRAHMS
Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68
Live-Konzert mit LEA
DJ Jan Krambeck
von Leon Battran
Klassik und Pop, das sind zwei verschiedene Welten. Klassik ist steif und elitär, sagen die einen; Pop hingegen ist nur belangloser Kommerz, die anderen. Fakt ist, dass auch Mozarts Musik großen Unterhaltungswert hat. Andererseits gibt es wohl nur wenige Künstler der Rock-und-Pop-Szene, die es mit der eigenen Musik nicht auch ernst meinen würden.
Wer hat also Recht? Natürlich Leonard Bernstein: Die Schubladen E und U, die Diskussion um ernste oder unterhaltsame Musik gehört längst ad acta gelegt. Von Interesse ist lediglich die Frage nach guter oder schlechter Musik.
Das „Phil & Chill-Konzert“, das einmal im Jahr in Hannover stattfindet, widmet sich der guten Musik und räumt mit Vorurteilen auf, indem es zusammenbringt, was im Konzertbetrieb für gewöhnlich strikt voneinander getrennt ist. Zu einem klassischen Programmpunkt, den die NDR Radiophilharmonie bestreitet, gesellt sich ein Live-Auftritt eines Künstlers aus dem Rock und Pop-Bereich.
In diesem Jahr trifft der Komponist und Pianist Johannes Brahms (Jahrgang 1833) auf die Sängerin und Texterin Lea-Marie Becker (Jahrgang 1992), die sich auf der Bühne schlicht LEA nennt. Sie ist eingesprungen für die ursprünglich vorgesehene Sängerin Namika, die das Konzert aus Krankheitsgründen abgesagt hatte.
Zunächst gibt es aber Klassik: Andrew Manze, der gerade erst seinen Posten als Chefdirigent in Hannover bis zum Sommer 2023 verlängert hat, dirigiert Johannes Brahms‘ erste Sinfonie. Der ganze Konzertabend ist heute ein wenig aufgelockert. Das Klatschen zwischen den Sätzen ist ausdrücklich erlaubt und erwünscht.
Das Moderatorenduo Andreas Kuhlage und Jens Hardeland von Radio N-Joy stellt vorab lustige Fragen an das Publikum, das Orchester und seinen Chefdirigenten und Andrew Manze nutzt die kurzen Unterbrechungen zwischen den Sätzen, um ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern. Er findet treffende sprachliche Bilder, um Brahms‘ Musik zu charakterisieren und erzählt amüsante Anekdoten aus dem Leben des Komponisten.
„Es geht um die Liebe“ sagt die zweite Geige Catherine Myerscough über Brahms‘ sinfonischen Erstling. So auch in den meisten von LEAs Liedern. Der Hamburger Altmeister scheint dann gar nicht mehr so weit von der Musik entfernt, zu der man aktuell tanzt.
Das Publikum ist bunt gemischt: Lea-Fans, Namika-Fans, Brahms-Fans, alle Altersklassen sind vertreten. Manche besuchen zum ersten Mal in ihrem Leben ein Sinfoniekonzert und bekommen von Andrew Manze und der NDR Radiophilharmonie einen leidenschaftlichen Brahms geboten.
Kopfsatz mit Kopfschmerz
Mit wirbelnden Pauken und hoher Spannungsdichte bahnt sich der erste Satz in dramatischem c‑Moll seinen Weg. Manze bezeichnet ihn als „headache“, als Kopfschmerz und Ringen mit der eigenen Existenz. Sein energisches Dirigat kitzelt dieses Beethovensche Pathos aus dem Orchester heraus.
Diese Musik kann etwas vertragen. Sie braucht das Beben der Kontrabässe und das Dröhnen des Kontrafagotts, eben die richtigen Tiefen und die bekommt sie. Die Bässe klingen groß und tragend. Die Streicher glänzen. Sie entflammen Melodien von atemraubender Schönheit und lassen zwischendrin Harmonien aufscheinen, die das Ohr umschmeicheln und erstaunen.
Das eine oder andere Detail mag im Eifer des Gefechts verlorengehen. So verdeckt das Horn schon mal die Solooboe. Manzes Interpretation ist stets passioniert, beinahe exaltiert. Das Gefühl des Getriebenseins weicht nicht und lässt die Musik auch an den entspannten Passagen kaum zur Ruhe kommen.
Ganz anders der folgende Satz. Manze vergleicht ihn mit einem Liebesbrief. Dieses Andante ist wie warmes Sonnenlicht auf der Haut, wie ein gedankenverlorenes Nachsinnen, ein Sich-Verlieren in Wünschen und Träumen, anrührend und dabei kein bisschen kitschig. Gekrönt wird dieser langsame Satz von einem gekonnt und voller Inbrunst vorgetragenen Solo der Konzertmeisterin.
Eher verhalten erklingt hingegen der dritte Satz und mutet ein bisschen wie eine moderatere, elegantere Version des Presto aus Beethovens siebter Sinfonie an. Umso spektakulärer gelingt schließlich das Finale: Zunächst die langsame Einleitung die immer wieder von gezupften Unisono-Passagen durchbrochen wird, dann das sich beherzt aussingende Horn und endlich ist da diese patriotisch-griffige Melodie, die jeden, der sich der Hansestadt Hamburg verbunden fühlt, unwillkürlich in Gedanken auf der Alster schippern lässt. Manch einer kennt sie vor allem als Titelmelodie des Hamburg Journals.
Andrew Manze dirigiert mit großen Gesten, feuert schnelle und gezielte Impulse ab. Das Orchester lässt sich anstecken. Das Ergebnis überzeugt Abonnementbesitzer und Klassikneulinge gleichermaßen. Großer Applaus am Schluss. Bravo!
Beim Ausgang aus dem Konzertsaal schlägt einem gleich die nächste Beschallung entgegen. Der DJ Jan Krambeck legt im Foyer einen tanzbaren Remix aus aktuellen Hits auf. Die eine wippt im Takt mit, der andere brüllt lautstark über den Tresen, um ein Getränk zu erhalten. Wer lieber etwas Ruhe haben möchte, zieht sich in den Innenhof zurück, da gibt es auch Bratwurst und Kartöffelchen.
Um kurz nach Mitternacht ist es dann endlich so weit und LEA betritt die Bühne. Die gebürtige Kasselerin hat lange in Hannover gelebt, hat dort Sonderpädagogik und Musik studiert und in der Limmerstraße in Linden-Nord gewohnt, einer bekannten Einkaufsstraße und Partymeile in Hannover.
Keine Rampensau
Auch wenn auf der Bühne und davor Party angesagt ist, wie eine Rampensau wirkt LEA nicht. Auf der Bühne kommt sie authentisch und sympathisch rüber, weniger extrovertiert als ihr Style, nahezu etwa schüchtern. Schade ist, dass sie durchgehend viele Töne eine Spur zu tief singt.
Leicht hatte sie es heute nicht. Es war ihr erstes Konzert vor ihrer eigentlichen Tournee, dann noch als Einspringer für Namika. Viele Fans der Sängerin waren enttäuscht, dass Namika nicht auftreten konnte und ersetzt werden musste.
Bereits zu Schulzeiten schrieb LEA eigene Songs. Sie sang, während sie sich selbst am Klavier begleitete und lud ihre Musik bei YouTube hoch. „Wohin willst du“ heißt einer dieser feinfühligen Songs von damals, den die 26-Jährige auch heute mehr als 10 Jahre später im Foyer des Landesfunkhauses Niedersachsen spielt. Er gehört zu ihren stärksten Songs.
Wie der zweite Satz aus der Brahms-Sinfonie gleichen auch viele von LEAs Liedern einem Liebesbrief, der auch mal schmerzhaft sein kann. LEAs Musik ist inspiriert von ihrem Leben und den eigenen Erfahrungen. Die meisten Titel sind modern produziert und mit tanzbaren synthetischen Beats unterlegt. Die Stärke von LEAs Musik liegt aber in ihrer Originalität, in den ehrlichen und intimen Texten und in den gefälligen Melodien, die ohne Umwege ins Ohr gehen und sich dort einnisten.
Auch ihr Titel „Leiser“ ist von dieser Sorte. Er hebt sich ab von dem emotionalisierten Einheitsbrei, den man deutscher Popmusik gerne mal nachsagt.
Was bleibt nun vom „Phil & Chill“-Event? Kurz gesagt, viele bunte Impressionen und ein langer aber kurzweiliger Konzertabend im Zeichen musikalischer Vielfalt. Wer viel Tagesfreizeit hat, diskutiert weiter über E und U. Jeder, der offen ist, genießt Brahms und tanzt zu LEA.
Leon Battran, 24. Februar 2019, für
klassik-begeistert.de