Thomas Johannes Mayer als Orest, Laura Aikin als Helena Foto: © Michael Pöhn
Wiener Staatsoper, 7. April 2019
Manfred Trojahn, Orest
von Manfred A. Schmid (onlinemerker.com)
Orest, der aus der von einem Fluch verfolgten Atridenfamilie stammt, ist in der gleichnamigen Oper von Manfred Trojahn, von dem auch das Libretto stammt, ein von Rachezwang Getriebener. Wie eine Art Killermaschine wird er von seiner Schwester Elektra dazu eingesetzt, die Ermordung seines Vaters Agamemnon zu rächen. Aber mit dem Tod seiner Mutter Klytämnestra – die Oper beginnt mit deren grässlichem Todesschrei und setzt damit dort ein, wo die Elektra von Richard Strauss endet – ist seine blutige „Mission“ noch lange nicht zu Ende. Ständig wiederholte „Orest“-Rufe der Erinnyen bedrängen ihn weiter und lassen ihn ebenso wenig zur Ruhe kommen wie die ihn heimsuchenden, quälenden Schuldgefühle.
Außer Elektra drängt auch Gott Apoll Orest zur Fortsetzung des Rachefeldzugs. Widerstrebend und von wachsenden Zweifeln heimgesucht, erledigt er auch den Folgeauftrag. Es dämmert ihm aber immer mehr, dass er zu einem Werkzeug übergeordneter Mächte, Zwänge und Bräuche geworden ist und dass sein Lebens-Zweck nur noch aus Töten aus Rache besteht, was ihm auch von seiner Schwester schonungslos bestätigt wird: „Du verlorst dein Ich. Apollo nahm es dir.“ Orest gelangt zu der Überzeugung, dass er aus diesem verhängnisvollen Kreislauf ausbrechen muss, in dem jeder Mord wieder nach Rache ruft und folglich eine sich immer wiederholenden Abfolge von Tötungen auslöst, die nie zu Ende kommt. Er weigert sich, nach der Ermordung Helenas auch deren Tochter Hermione zu töten. Hermione tritt ins Dunkel der Bühne/ der Geschichte ab. Orest folgt ihr: „Ich werde der sein, den ich finde werde.“
Manfred Trojahn hat zu den sechs Szenen seines eineinviertel Stunden dauernden Musiktheaters eine spannungsreiche und die Zuhörer stets in ihren Bann ziehende Musik geschrieben. Die Gesangsstimmen sind fordernd komponiert, aber trotzdem von fasslicher, deklamatorischer Klarheit. Natürlich denkt man beim Hören an Bergs Wozzek, der ja auch so ein Getriebener ist und wie ein offenes Messer durch die Welt rennt, oder an Brittens Peter Grimes, der sich, wie von einem Fluch behaftet, mit einer Folge von Todesfällen und der daraus resultierenden Frage nach der Schuldhaftigkeit konfrontiert sieht. In homöopathischen Dosen mag gewiss auch etwas Strauss dabei sein. Diese und viele weitere Einflüsse werden von Trojahn in einer sehr personalisierten Art und Weise zu einem stimmigen Ganzen geformt. Der Vorwurf des Eklektizismus ist angesichts dieses eindrucksvollen Stils nicht zulässig und in Zeiten der Postmoderne ohnehin obsolet geworden.
Dramaturgisch wichtig sind die Übergänge, in denen fast tödlich wirkende Ruhe herrscht oder nur ein von einem einzigen Instrument ertönender tiefer Klang zu hören ist: Momente des Ausgepowert-Seins, der totalen Erschöpfung, bevor das Morden wieder weiter geht. Orest liegt da wie bewusstlos am rechten vorderen Bühnenrand. Zu erwähnen auch das knallharte Intermezzo, das vom Regisseur und Ausstatter Marco Arturo Marelli, der für das intensive Kammerspiel einen passenden Einheitsraum geschaffen hat, mit einer großen Schar von Artisten als ein toll choreographiertes Kriegsgeschehen inszeniert wird. Das geht unter die Haut. Jedenfalls bietet diese packende Aufführung einer zeitgenössischen Oper – wenige Wochen nach der faden Uraufführung von Die Weiden – ein spannendes Erlebnis. Man versteht, warum Trojahns Werk, nach der Amsterdamer Uraufführung 2011, schon mehrfach nachgespielt worden ist und es weiter auch wird.
Großen Anteil an der fulminanten Aufführung hat der Dirigent Michael Boder, der seinen Ruf als Spezialist für das moderne Musiktheater wieder einmal bestätigt hat und das Staatsopernorchester zu einer Glanzleistung führt. Auch auf der Bühne ist ein hochkarätiges Ensemble im Einsatz. Die Partie der Elektra, die nur noch aus Hass zu bestehen scheint, ist mit der in Wien bereits bestens bewährten Strauss-Elektra Evelyn Herlitzius trefflich besetzt. Ein Fleisch gewordener, manischer, unstillbarer Schrei nach Rache. Laura Aikin singt die divenmäßig kostümierte und auch so auftretende Schönheitskönigin Helena, die ihr eigenes Ich nie gesehen hat, nur ihr Spiegelbild kennt und jeden Realitätsbezug verloren hat. Audrey Luna ist die junge, unschuldige Hermione, die aber keineswegs naiv ist, sondern den todbringenden Mechanismus der überkommenen Normen hellsichtig durchschaut und Orest mit dazu ermuntert, auszusteigen. Die extrem hohen Töne, die ihr in dieser Rolle abverlangt werden, bewältigt sie erstaunlich gut. Kein Wunder, hat sie diese Fähigkeit doch schon in The Tempest von Thomas Adés unter Beweis gestellt.
In der Titelpartie kommt der Wagner-erprobte Bariton Thomas Johannes Mayer zum beinahe pausenlosen und mit Bravour gemeisterten Einsatz. Er ist auch darstellerisch eine Wucht. Daniel Johansson wirkt in der fordernden Doppelrolle Apollo/Dionysos stimmlich etwas angestrengt, Thomas Ebenstein karikiert als König Menelaos den zaudernden, stets opportunistisch abwägenden Politiker, der es sich mit keinem verscherzen will, seinen um Hilfe rufenden Neffen Orest im Blutregen stehen lässt und sich dann wundert, wenn er seine Frau Helena ermordet vorfindet.
Für eine zeitgenössische Oper war das Haus recht gut besucht. Auch der Applaus klang enthusiastisch. In der vorliegenden Inszenierung von Trojahns Orest knüpft Marelli – bis hin zur Verwendung der Axt – bewusst an die Elektra von Strauss an. Man möchte sich wünschen, einmal an einem Abend beide Opern hintereinander präsentiert zu bekommen. Bei einer Gesamtdauer von drei Stunden ein durchaus realisierbares Projekt.
Manfred A. Schmid, 9. April 2019