© Gregor Hohenberg, Sony Classical, Jonas Kaufmann
Staatsoper Hamburg, 16. April 2019
Georges Bizet, Carmen
(33. Vorstellung seit der Premiere am 19. Januar 2014)
von Guido Marquardt
Kaufmann souverän, Margaine wuchtig, Mantashyan strahlend, Vinogradov volltönend: Das Ensemble dieser „Carmen“ sorgt für eine sängerische Sternstunde in Hamburg, die das Publikum zu Jubelstürmen mitreißt. Die biedere Inszenierung fällt da kaum ins Gewicht.
Hand aufs Herz: Sie sind doch nicht hier, um etwas über die Inszenierung zu lesen, oder? Diese ist fünf Jahre alt – es könnten aber auch fünfzig sein oder fünf Wochen, ganz egal. Sie ist einfach nicht der Rede wert, zeigt in weiten Teilen das, was durchschnittlich opernaffine Menschen sich so grob unter der Geschichte vorstellen würden und bietet ein Bühnenbild irgendwo zwischen Brutalismus und Freizeitpark. Geschenkt. Immerhin werden die Darsteller nicht in groteske Kostüme gezwungen, wenn man mal von Escamillo absieht, der die Mehrzahl seiner Auftritte in einem goldfarbenen Trainingsanzug und mit grell überzeichneter Maske absolvieren muss, als sei David Lynch eine bizarre Kooperation mit Harald Glööckler eingegangen.
Auch darstellerisch passiert nicht allzu viel, zumindest die Chöre (insbesondere der Alsterspatzen-Kinderchor) dürfen sich allerdings austoben.
Positiv formuliert, stört die Inszenierung nicht die Konzentration auf die Sängerinnen und Sänger. Dass man Ähnliches auch fast über die Orchestermusik sagen kann, ist dann schon ein wenig betrüblicher. Pier Giorgio Morandi ordnet jedenfalls an diesem Abend alles der Absicht unter, den Solisten einen roten Teppich auszurollen. Das allerdings macht er gut, und der eine oder andere gelungene Akzent wird insbesondere von den Perkussionsinstrumenten und den Bläsern dann doch gesetzt. Ansonsten gibt es manch verschleppte Passage und darüber hinaus wenig Auffälliges. Nennen wir das ganze einfach mal „zweckdienlich“.
Nun gut, manchmal ist anderes einfach wichtiger oder zumindest deutlich interessanter. An diesem Abend ist es die Besetzung. Dass sie nicht nur auf dem Papier hochkarätig ausfällt, sondern auch die Performance eine absolute Wucht ist, gehört zu den Glücksmomenten, auf die man als Rezensent hinfiebert – einfach auch schon deshalb, weil sie sich nie mit letzter Sicherheit planen lassen.
Also, zu den Stimmen: Ironiker könnten ja die Frage stellen, welche Rollen Jonas Kaufmann denn an diesem Abend alle übernommen habe. Doch Mahler ist nicht Bizet, ein Liederabend keine Opernaufführung und die Elbphilharmonie ist nicht die Staatsoper. Keine bahnbrechenden Erkenntnisse, wohl aber die Basis für einen Genuss ersten Ranges: Kaufmann ist in Hochform und gibt den Don José in all seiner Zerrissenheit glaubwürdig und stimmlich absolut souverän. Die leicht baritonale Cremigkeit seiner Stimme steht dem Meistern von brillanten Höhen nicht im Wege, gibt im tieferen Register seinem Timbre ein schönes Volumen und viel Wärme. Auch die zarteren Passagen gelingen vortrefflich. Für Gänsehautmomente sorgt die „Blumenarie“ „La fleur que tu m’avais jetée“. Zum Ausleben seiner sichtbaren Spielfreude bietet die Inszenierung leider wenig Möglichkeiten, aber in Mimik und Gestik agiert Kaufmann jederzeit überzeugend.
Clementine Margaines Carmen ist erfreulich rustikal angelegt – Carmen ist nun mal kein Feingeist, und ihre Erotik keine der subtilen Art. Entsprechend gibt Margaine richtig Gas, singt kraftvoll und wuchtig und mit einem angenehm herben Touch. Dennoch gelingt es Margaine zugleich, die Verlorenheit der Figur in ihrer ganzen Stärke herauszuarbeiten. Ja, hier hat auch die Inszenierung ihre guten Momente, wenn sie Carmen bereits in der Habanera durch Lichtregie und Raumgestaltung als Außenseiterin zeigt, als eine, die zwar Wortführerin ist, aber dennoch am Ende allein steht.
Da ist Micaëla natürlich von ganz anderer Art. Ruzan Mantashyan begeistert an diesem Abend mit ihrem feinen, lyrischen Ansatz und ihrer zarten Ausstrahlung, die perfekt zu dieser Rolle passt. Ihre Höhen sind perfekt ausgesungen, ohne je ins Schneidende zu kippen. Ein weiterer Nebeneffekt ihrer überaus aparten Erscheinung ist, dass uns Don Josés Verhalten um so unverständlicher erscheint, hätte er hier doch eine Brautwahl treffen können, die vermutlich 95 Prozent des männlichen Publikums unmittelbar nachvollzogen hätten. Und spätestens mit ihrer Arie „Je dis que rien ne m’épouvante“ hat sie ohnehin die Herzen aller Anwesenden gewonnen. Wundervoll!
Den Torero Escamillo gibt Alexander Vinogradov ganz ähnlich wie kürzlich den Zaccaria in „Nabucco“: volltönend und mächtig. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Rolle für einen Bass doch in beträchtliche Höhen führt. Vinogradov bereitet das keine erkennbare Mühe. Seine Auftritte tun an diesem Abend jedenfalls genau das, was auch ein Torero erreichen möchte: Sie machen mächtig Eindruck.
Auch die weiteren Rollen sind hervorragend besetzt. Da wären Zak Kariithis pointierter Moralès, Florian Spiess‘ wunderbar arroganter Zuniga und die schön komödiantisch angelegten Schmuggler, dargestellt von Ziad Nehme und Viktor Rud. Zu guter Letzt dürfen auch Katharina Konradi und Marta Swiderska nicht unerwähnt bleiben, die in ihre Frasquita und Mercédès eine gut dosierte Verruchtheit legen, ohne dabei zu überzeichnen.
Schließlich die Chöre. Der Staatsopernchor ist gewohnt solide. Auch bei ihm konnte man aber den Eindruck gewinnen, er singe zwischenzeitlich mit etwas gebremstem Schaum, um keinesfalls den Solistinnen und Solisten die Schau zu stehlen. Die Alsterspatzen sind da etwas unbefangener – wunderbar, wie sie sich austoben, insbesondere gleich zu Beginn, wo sie das „Taratata“ mit der nötigen schmutzigen Frechheit herausrufen.
Die Chemie stimmte einfach an diesem Abend. Sowohl solo als auch im Zusammenspiel überzeugten alle Stars und sorgten für ein absolutes Highlight der Saison. Eine gewisse Spannungsaufladung war durchaus schon im Publikum spürbar, das auch mit Zwischenapplaus nicht geizte und den äußerst ungewöhnlichen Vorhang zur Pause begeistert aufnahm. Am Ende gab es euphorischen Jubel mit einer kleinen Extra-Dosis für Jonas Kaufmann. Sofern es der Versöhnung zwischen Kaufmann und Hamburg bedurft hatte: Mission erfüllt.
Guido Marquardt, 17. April 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musikalische Leitung: Pier Giorgio Morandi
Inszenierung: Jens-Daniel Herzog
Bühnenbild und Kostüme: Mathis Neidhardt
Licht: Stefan Bolliger
Dramaturgie: Hans-Peter Frings, Kerstin Schüssler-Bach
Chor: Christian Günther
Hamburger Alsterspatzen: Luiz de Godoy
Spielleitung: Holger Liebig
Don José: Jonas Kaufmann
Escamillo: Alexander Vinogradov
Remendado: Ziad Nehme
Dancïro: Viktor Rud
Zuniga: Florian Spiess
Moralès: Zak Kariithi
Carmen: Clementine Margaine
Micaëla: Ruzan Mantashyan
Frasquita: Katharina Konradi
Mercédès: Marta Swiderska
Zigarettenverkäuferin: Veselina Teneva
Zigarettenverkäufer 1: Julius Vecsey
Zigarettenverkäufer 2: Catalin Mustata
Zigarettenverkäufer 3: Mark Bruce
Lillias Pastia: Maik Mensching
Kinderchor Alsterspatzen
Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg