Es kommt nicht oft vor, dass im Programmheft einem Schrotthändler für die Bereitstellung einiger Musikinstrumente gedankt wird. Ebenso passiert es selten, dass man bei einer Pianistin den Weg auf die Bühne für gefährlicher hält als die Tücken ihrer Partitur. Beides allerdings ließ sich erleben während eines intensiven Konzertabends mit Alan Gilbert, Yuja Wang und dem NDR Elbphilharmonie Orchester beim „Klingt nach Gilbert“-Antrittsfestivals.
Foto: © Kirk Edwards, Yuja Wang
Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal, 12. September 2019
NDR Elbphilharmonie Orchester
Yuja Wang, Klavier
Pedro Miguel Freire, Trompete
Alan Gilbert, Dirigent
Gaspare Buonomano, Klarinette
Andreas Grünkorn, Violoncello
Magnus Lindberg, Klavier
Thomas Schwarz, Schlagzeug
Stephan Cürlis, Schlagzeug
Juhani Liimatainen, Live-Elektronik
Dmitrij Schostakowitsch
Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester Nr. 1 c-Moll op. 35
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 F-Dur op. 102
Zugaben von Yuja Wang
Franz Liszt
Gretchen am Spinnrade S 558/8 / Bearbeitung für Klavier nach Franz Schubert D 118
Georges Bizet
Habanera der Carmen aus »Carmen« / Bearbeitung für Klavier von Vladimir Horowitz
Magnus Lindberg
Kraft I. und II. für Solisten und Orchester mit Live-Elektronik
von Guido Marquardt
Man hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass alles, was im Zusammenhang mit der Hamburger Elbphilharmonie steht, immer etwas größer ist als anderswo. Ob Lob oder Kritik – hier regiert kein Mittelmaß, sondern der Superlativ. Da ist es nur konsequent, wenn auch der Dienstantritt des neuen Chefdirigenten Alan Gilbert mit einem regelrechten Festival erfolgt.
Das Repertoire wird abgesteckt
„Klingt nach Gilbert“ hat nicht weniger als den Anspruch, mit sechs Programmen in acht Konzerten mehr zu zeigen als nur eine erste musikalische Visitenkarte. Stattdessen macht die enorme Bandbreite des Angebotenen deutlich, wie Gilbert sein Repertoire für die nächsten Jahre abzustecken gedenkt. Das reicht von durch und durch hanseatischem bzw. kanonischem Stoff (Brahms, Haydn) über Werke des 20. Jahrhunderts (Ives, Varèse) bis hin zu ganz frischen Auftragswerken (Poppe, Unsuk Chin – letztere in dieser Spielzeit als „Composer in Residence“ beim Orchester angesiedelt).
Äußerst reizvoll auch das Programm an diesem Abend: gleich beide Klavierkonzerte von Schostakowitsch, dazu Magnus Lindbergs Frühwerk mit dem alles und nichts verratenden Titel „Kraft“ – man durfte gespannt sein.
Eine Sänfte für die Solistin?
Einige Sorgen musste man sich um die Gastsolistin des Abends machen: Die Pianistin Yuja Wang, in den Vorjahren bereits unter nicht immer glücklichen Umständen in der Elbphilharmonie zu Gast, betrat in einem mehr als engen petrolfarbenen Abendkleid die Bühne. Der Schwierigkeitsgrad, den dieses Kleid für die Bewegungsfreiheit der Solistin mit sich brachte, wurde nur noch getoppt durch ihre Schuhe, wahrlich schwindelerregende High Heels, die spontan Rufe nach einer Sänfte aufsteigen ließen.
Wie sich jedoch herausstellen sollte, fiel Yuja Wang das Laufen an diesem Abend ungleich schwerer als das Klavierspiel. Mit unglaublicher Technik, Präzision und Tempo schnitt sie durch die Schostakowitsch-Konzerte wie ein scharfes Messer durch ein Blatt Papier.
Wie ein Sportwagen
Schostakowitschs erstes Klavierkonzert ist ein wilder, parodistischer Ritt durch musikalische Epochen vom Barock bis zur atonalen Musik, von Haydn über Beethoven bis Ravel. Immer wieder wechseln Tempo und Stimmung. Hat Wang einmal Pause, wartet sie wie ein Sportwagen an der roten Ampel, jederzeit bereit, sofort wieder loszustürmen. Mit Bravour bewältigt sie die technischen Herausforderungen, wobei sie ihre Hände bis zu Ellenbogen zu verlängern scheint wie bei einer bewusst zur Verstärkung der Hebelkraft eingesetzten mechanischen Optimierung. Bevor allerdings der Verdacht entsteht, es handele sich hier um reinen Kraftsport an den Tasten, sei erwähnt, dass Wang den zweiten Satz sehr fein und weich akzentuierte.
Trompete als virtuoser Sidekick
Der unruhige Charakter speziell dieses ersten Konzerts stellt einige Ansprüche an die Feinabstimmung zwischen Solistin und Orchester. Besonders hervorgehoben werden muss freilich Trompeter Pedro Miguel Freire. Einsam sitzt er bei diesem Werk zwischen den leeren Bläser-Stühlen, sind doch ansonsten neben der Pianistin nur die Streicher gefragt. Während letztere für eine solide, gelegentlich vielleicht etwas zu sentimentale Grundierung sorgen, hat die Trompete in diesem Konzert einen sehr eigentümlichen Part:
Weder ist sie wirklich gleichberechtigtes zweites Solo-Instrument, noch ist sie einfach in das Orchester eingegliedert. Wären wir bei einer Fernsehshow, könnte man die Trompete vielleicht als „Sidekick“ bezeichnen. Ihre Einwürfe sind prägnant, teilweise regelrecht komisch und dabei zugleich hoch virtuos. Am markantesten schmettert Freire im Schlusssatz; wie ein spitzbübischer Klassensprecher, der die besten Gags für sich reklamiert, setzt er die entscheidenden Töne für einen mitreißenden Dialog mit dem Klavier. Doch die finale Attacke reiten schließlich beide gemeinsam.
Übrigens steht Wangs Flügel an diesem Abend ohne Deckel auf dem Podium. Eine sehr gute Entscheidung, um den Saal wirklich in alle Richtungen gleichberechtigt zu beschallen!
Leichtfüßig und verträumt
Das kommt auch in Schostakowitschs zweitem Klavierkonzert zum Tragen, einem gezielt für seinen Sohn geschriebenes Virtuosenstück. Später vom Komponisten eher geringgeschätzt und bis heute nicht so häufig aufgeführt, bietet es eine für Schostakowitsch ungewöhnliche, durchgehend heitere, jugendliche Grundstimmung. Yuja Wang und das nun größer besetzte Orchester bieten das angemessen leichtfüßig dar, auch der verträumte zweite Satz gelingt ausgezeichnet.
Wangs Zugaben reißen das Publikum schließlich vollends aus dem Sulky: Als sei sie zuvor unterfordert gewesen, knallt sie gleich zwei hochvirtuose Stücke in den Saal; insbesondere die wahnwitzige Performance bei Horowitz‘ Bizet-Bearbeitung lässt sich eigentlich nur mit der Idee vergleichen, sie hätte in Kleid und High Heels ein Ballett-Solo dargeboten. Als Ausdruck von Wangs Spielfreude und Repertoiretiefe mag übrigens auch gelten, dass sie beim Wiederholungstermin dieses Konzerts am nächsten Abend drei (!) andere Zugaben spielte, von Mozart, Prokofjew und Gluck.
Erklärungsbedürftige Live-Erfahrung
Eine lange Umbaupause leitet über in den zweiten, ganz anderen Teil des Abends. Alan Gilbert nutzt die Gelegenheit, dem Publikum noch einige Erläuterungen zu Magnus Lindbergs „Kraft“ zu geben und zu seiner eigenen Motivation, dieses Werk auf die Bühne zu bringen. Eine wirkliche Live-Erfahrung verspricht er, eine Mischung aus Hören, Sehen, Raumerfahrung, Ritual und Zeremonie. Nachdem zuvor bereits der Komponist selbst im Einführungsgespräch mit Habakuk Traber betont hatte, dass es hier darum gehe, wirklich mitten in der Musik zu sitzen und dabei eine echte Klanglandschaft zu erleben, macht das beinahe etwas misstrauisch: Sollte die Musik nicht für sich selbst sprechen können, benötigt sie so viel Erklärung und Moderation?
In der Tat fällt es schwer, das im Saal Erlebte außermusikalisch auszudrücken. Auch der Hinweis auf Ton- und Bildaufzeichnungen greift zu kurz, denn die ganzheitliche Erfahrung bei der Aufführung lässt sich auf anderen Wegen einfach nicht annähernd erreichen.
Strukturen aus dem Lärm
In den ersten zwei Minuten des Werks geschieht laut Gilbert die entscheidende Weichenstellung. Zugleich sind sie sicherlich die stärkste Zumutung für das Publikum, denn im infernalischen Lärm der Instrumente – vom üblichen Orchesterinstrumentarium über Gongs verschiedenster Größe und Percussion bis hin zu Alltagsgegenständen (Töpfe, Schalen) und Industrieschrott – schälen sich nur ganz allmählich Strukturen heraus, werden perkussive Säulen erkennbar und blitzen kurze melodische Einschübe auf.
Lindberg lebte in der ersten Hälfte der 1980er Jahre einige Jahre in Berlin. Dort beeindruckte ihn die musikalische Subkultur von Punk und Avantgarde, insbesondere die „Einstürzenden Neubauten“. Die Dynamik und den Raumbezug dieser Musik ließ er in seine „Kraft“-Komposition einfließen – allerdings ist es dennoch ein streng durchkomponiertes Werk; Improvisation ist nicht vorgesehen. Das ist für die Musiker enorm herausfordernd, zumal sie sich ständig im Raum bewegen, sich immer wieder solo, zu zweit oder in Dreier- und Viererkonstellationen auf den Rängen ringsum im Saal verteilen. Wenn sie mit wippenden Frackschößen über die Treppen eilen, hat das bisweilen fast etwas vom beflissenen Dienstpersonal eines Staatsbanketts.
Mit Spaß raus aus der Komfortzone
Auch instrumentell verharren die Musiker keinesfalls in ihrer Komfortzone: Häufig sind Gegenstände in Reibung zu versetzen, schleifende und scheppernde Töne werden auf die unterschiedlichste Art und Weise erzeugt. Klarinettist Gaspare Buonomano ist sogar an einer Wasserpfeifen-artigen Installation gefragt, mit der er blubbernde Geräusche beiträgt. Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, dass durchaus auch der Humor bedient wird. Insgesamt hat man den Eindruck, dass alle Beteiligten mit enormem Spaß bei der Sache sind. Das gilt übrigens auch für den Komponisten, der an wechselnden Stationen selbst seine Beiträge leistet.
Sehr deutlich ist auch, dass sich Lindberg bereits in diesem frühen Werk eingehend mit den Gestaltungsmöglichkeiten der verschiedenen Instrumente befasst hat. So haben z. B. die Bässe in „Kraft“ häufig die Aufgabe, für eine Art „Dämpfungsteppich“ zu sorgen, der die schrillen, dissonanten und schlichtweg lauten Töne der höheren Instrumentengruppen abfedert und die Grundrhythmik subtil erkennbar bleiben lässt. Andreas Grünkorn als Solo-Cellist ist immer wieder für Passagen mit extrem kurz gegriffener Mensur gefragt, was dem Cello-Klang eine ganz eigentümliche Markanz verleiht.
Inszenierung von Raum und von Gleichzeitigkeit
Die beiden Teile von „Kraft“ gehen unmittelbar ineinander über und sind als geschlossenes Werk zu verstehen. Dennoch haben beide eine etwas unterschiedliche Grundcharakteristik: Im ersten Teil dominiert das Inszenieren des Raums. Durch „wandernde“ Gong-Töne, die mit den ringsum postierten Instrumenten arbeiten, wird die Elbphilharmonie an diesem Abend gleichsam musikalisch-räumlich vermessen. Immer wieder wandert dadurch fast automatisch auch der Blick des Publikums im ganzen Saal herum. Der zweite Teil ist dann eher darauf ausgerichtet, Simultaneität zu demonstrieren. Wie sich einzelne Instrumente in den Tutti behaupten (oder auch eben nicht), wie in einem vordergründig einfach als „Krach“ empfundenen Kolossalklang nach einiger Zeit doch auch Differenzierungen herausgehört werden können, das ist schon ein eindrucksvoller Effekt.
Jubel am Limit
Rund 30 Minuten dauert das Werk von Lindberg. Ob seiner Intensität ist das sicherlich auch für alle Beteiligten ziemlich am Limit. Dieses Limit ausgereizt zu haben, bringt Gilbert und dem Ensemble schließlich den hochverdienten Jubel des Publikums. Beziehungsweise der Mehrheit des Publikums, die sich den Anstrengungen unterworfen hatte, die diese Performance fraglos mit sich brachte. Immerhin, geschätzt zwei bis drei Prozent „Saalflüchtlinge“ erscheinen durchaus moderat, ebenso der Anteil der zwar ausharrenden, aber letztlich unbeeindruckten Besucher.
Lebhafte Gespräche des abziehenden Publikums, zwischen Überforderung und Enthusiasmus, zwischen Unverständnis und „Muss ich nicht jeden Abend hören, aber zur Abwechslung war’s toll“, kennzeichneten die Reaktionen. Und genau so soll es doch auch sein: Gleichgültig und völlig unberührt sind hier die Allerwenigsten – so geht ein fulminanter Konzertabend.
Well done, Mr. Gilbert – keep going!
Guido Marquardt, 14. September 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at