Cardiff: Beifallsstürme für eine "Carmen" im Slum

Georges Bizet, Carmen,  Welsh National Opera, 6. Oktober 2019

Foto: © Bill Cooper

Welsh National Opera WNO, Cardiff,
6. Oktober 2019

Georges Bizet, „Carmen“
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévi,

von Charles E. Ritterband

Spanisches Flair, bunte Farben, Flamenco-Exotik und überschäumende Lebensfreude – das gibt es in dieser Inszenierung: Genau zehn Minuten lang. Auf dem sehr attraktiven, sonnenüberströmten, in orange- und goldgelbtönen gehaltenen Bühnenvorhang nämlich.

Dann öffnet sich dieser Vorhang, um das Bühnenbild freizugeben. Und da ist nichts mehr von Lebensfreude zu sehen, nichts von farbenfroher spanischer Flamenco-Herrlichkeit. Da ist nur noch das graue, deprimierende Halbrund einer Art Arena zu sehen, bestehend aus Betonelementen, elenden winzigen Wohnungen mit Aircondition-Geräten und zum Trocknen aufgehängter Wäsche. Tristezza.

Das ist nicht die herrliche Stadt Sevilla, in der üblicherweise die „Carmen“ angesiedelt ist – sondern eine brasilianische Favela, ein Slum aus den 70er Jahren. Und die Soldaten sind die machistisch und brutal agierenden Stützen der brasilianischen Militärdiktatur, die zwischen 1964 und 1985 das riesige Land mit eisernem Griff umklammerte. Das Militär spielt denn auch eine prominente Rolle in dieser Inszenierung – die Soldaten stehen in einem Spannungsverhältnis zu den Einwohnern dieser Favela. Und die Schmuggler verbergen in ihren Kisten nicht (wie sonst) „irgendwelches Schmuggelgut“ sondern Waffen, mit denen, wir haben es zu vermuten, ein terroristischer bzw. Guerillakampf gegen die Militärdiktatur unternommen wird.

So wird auch der (durch die Umstände erzwungene) Frontwechsel, die Desertion Don Josés plausibel: Als er noch Soldat war, galt er den Zigeunern bzw. Favela-Bewohnern als Feind – wer nicht mit ihnen war, war gegen sie. Er verlässt nicht nur die Armee, er nimmt einen Frontwechsel vor: Von den Regierungs-Streitkräften zu den Guerillas, in den Untergrund. Dies macht diese außerordentlich spannende „Carmen“ hochpolitisch.

Foto: © Bill Cooper

„Carmen“, so schreibt die Regisseurin im Programmheft, sei ebenso sehr eine Erzählung über die Klassenzugehörigkeit der Protagonistin wie eine Erzählung über ihre Sexualität. Die in dieser Produktion gezeigte Favela als Schauplatz sei genau so eine harsche und feindselige Umwelt wie sie Carmen zu gewärtigen hatte.

Die Inszenierung der englischen Regisseurin Jo Davies will das Agieren von Carmen aus den „sozialen Herausforderungen“ erklären, denen sie ausgesetzt war – und nicht das Publikum (wie es dieses üblicherweise erwarten mag) „in eine romantisierte Vorstellung des sonnigen Spaniens mit Orangen, Fächern und Castagnetten“ verfallen lassen.

In dieser Inszenierung tanzt Carmen denn auch ihren berühmten, von den Trompeten des Zapfenstreichs übernommenen Verführungstanz für Don José im zweiten Akt nicht mit Castagnetten, sondern mit Scherben von zerbrochenen Tellern – entsprechend einem Detail in Bizets ursprünglicher Inszenierung.

Foto: © Bill Cooper

Bizets Oper – eine der berühmtesten, gefeiertsten und weltweit meistgespielten überhaupt – war bei ihrer Uraufführung am 3. März 1875 ein eklatanter Misserfolg, ein beispielloser Skandal: Eine Oper, die eine Frau, eine einfache Arbeiterin, und nicht wie sonst üblich eine Prinzessin oder dergleichen, noch dazu eine selbstbewusste, sexuell explizit agierende als Protagonistin auf die Bühne brachte – das hatte es noch nie gegeben.

Das Pariser Bürgertum reagierte, anfänglich zumindest, mit Missfallen. Gar nicht so in Cardiff: Das Publikum nahm  diese ungewöhnliche Neuinszenierung mit großer Begeisterung auf. Lag es an der mitreißenden musikalischen Interpretation des WNO-Orchesters und der Sängerinnen und Sänger? Oder herrschte in Cardiff, einst der wichtigste Kohlehafen der Welt und Stadt der Arbeiterklasse, mehr Verständnis für die mittellose Arbeiterin Carmen und, wie hier präsentiert, für die Bewohner eines elenden Slums im weit entfernten Brasilien?

Jedenfalls erntete diese Produktion Beifallsstürme – im Gegensatz zu prononciert kritischen Rezensionen, beispielsweise im „Guardian“.

Foto: © Bill Cooper

Die „Carmen“ dieser Produktion wurde von der jungen französischen Sopranistin Virginie Verrez verkörpert. Eine fantastische Sängerin, welche der Carmen eine wunderbare Stimme lieh, die in sämtlichen Facetten und Tonfarben brillierte, mit stimmlicher Stärke, Sicherheit und unfehlbarer Präzision selbst heikelste Passagen meisterte.

Verrez ist eine blutjunge, wunderschöne Frau, verführerisch, temperamentvoll – doch eines ist sie nicht: Carmen. Das liegt nicht nur an ihrem hellen Typ und den blonden Haaren. Sie ist keine Verworfene, keine raffiniert-skrupellose Verführerin, die ihre Sexualität bewusst und gezielt zur Erreichung ihrer Ziele einsetzt. Sie wirkt viel mehr wie eine gehobene Bürgertochter aus gutem Hause – deutlich attraktiver als die arme, solide Micaela, aber nicht die „Teufelin“, als die sie Don José bezeichnet.

Dieser Don José ist durchaus leidenschaftlich und glaubwürdig – ein „Loser“, ein „Verlierer“, hochanständig (das literarische Vorbild allerdings lehrt uns das genaue Gegenteil!), aber im Gegensatz zu Escamillo, dem Stierkämpfer, nicht viril und schon gar nicht sexy. Stimmlich sehr lyrisch und fein, mit sehr schön gesungenen Passagen.

Der Escamillo des Baritons Philip Rhodes ist kraftvoll und männlich; vor allem sein erster Auftritt in der übel beleumundeten Kneipe von Lillas Pastias ist szenisch hervorragend, wenn er von seinen dramatischen Stierkampf-Erlebnissen nicht nur berichtet, sondern seine Figuren in der Arena pantomimisch nachzeichnet.

Rhodes überzeugt – aber seine berühmte Arie, bei der einem sich eigentlich die Rückenhaare sträuben sollten, hatte nicht den Effekt, den man sich von einem Escamillo erhoffen würde: Eine Naturgewalt in Gestalt eines Über-Machos, die über die versammelte Gesellschaft hereinbricht. So erfüllten weder diese Carmen noch dieser Escamillo alle gehegten Erwartungen an dieses Traumpaar. Ganz anders hingegen tönte es aus dem Orchestergraben: Feurig, temperamentvoll, mitreißend.

Charles E. Ritterband, 13. Oktober 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Inszenierung: Jo Davies
Dirigent: Tomas Hanus
Kostüme: Gabrielle Dalton
Carmen: Virginie Verrez
Don José: Dimitri Pittas
Escamillo: Philip Rhodes
Micaela: Anita Watson
Chor und Orchester der WNO

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