Ein kurzer Besuch in einem Antiquariat, und schon befindet man sich auf einer Zeitreise, die bis zurück ins 18. Und 19. Jahrhundert führt. Es lohnt sich, nicht immer nur dem aktuellen Mainstream zu folgen…
von Peter Sommeregger
Vor einiger Zeit entdeckte ich zufällig ein kleines Musikantiquariat in einem Ostberliner Stadtbezirk. Der Laden hatte ganz offensichtlich bessere Tage gesehen, die Regale waren bereits halb leer und es sah sehr nach Abverkauf aus. Das Angebot an Vinyl und CDs schien mir schon sehr geplündert zu sein, also konzentrierte ich mich auf Bücher und Noten.
Ein paar Klavierauszüge von populären Opern waren auch vorhanden, nichts besonders Interessantes. Der letzte Band, den ich zur Hand nahm, bot dann aber doch eine kleine Überraschung. Es war der Klavierauszug der Opéra comique des französischen Komponisten Francois-Adrien Boieldieu (1775-1834) „La Dame Blanche“ (Die weiße Dame). Bekannt war mir daraus nur die Tenor-Arie „Komm, oh holde Dame“, die lange Zeit von allen Tenören aufgenommen wurde, und immer wieder den Weg in Wunschkonzerte fand. Besonders die Aufnahme von Fritz Wunderlich ist immer wieder zu hören, und macht auf das gesamte Werk neugierig.
Tatsächlich existieren zwei komplette Aufnahmen der Oper, die man beide als geglückt bezeichnen kann. Ein Live-Mitschnitt mit Nicolai Gedda und eine Studio-Produktion von Marc Minkowski aus den 1990er-Jahren. Man kann gut nachvollziehen, dass dieses Werk bis tief in das 20. Jahrhundert nicht nur in Frankreich häufig gespielt wurde. Eingängige Musik verbunden mit einem Libretto, das durchaus Charme und Witz hat, in Frankreich gilt die Oper als Höhepunkt der Gattung Opéra comique. Die Musik hat durchaus auch „Biss“, es gibt eine Reihe schöner Arien, Chöre und Ensembles.
Auf den heutigen Spielplänen sucht man dieses Genre allerdings vergeblich, auch die Deutsche Spieloper ist praktisch daraus verschwunden. Das hat sicher viel mit einer neuen Theaterästhetik zu tun, die mit Werken dieser Art nichts mehr anzufangen weiß. So verschwinden immer mehr Werke, die auch noch bis in die 1970er-Jahre gespielt wurden, aus dem gängigen Repertoire. Die unverwüstliche, musikalisch reiche „Martha“ ebenso, wie praktisch alle Opern von Lortzing und Zeitgenossen. Schade!
Beinahe hätte ich den Besitzerstempel auf dem Vorsatz des Klavierauszuges übersehen: Kammersängerin Hedwig Francillo-Kauffmann, Berlin Kurfürstendamm 144. Diesen Namen hatte ich schon mehrfach gehört, besaß sogar eine CD mit historischen Aufnahmen der Künstlerin, die wie ich selbst in Wien geboren wurde. Dort wurde sie auch ausgebildet, bevor sie mit nur 20 Jahren in Stettin debütierte. Es schloss sich eine große Karriere in München, Wien und Berlin im lyrischen bzw. Koloraturfach an, auch als Konzertsängerin war sie erfolgreich. Auf ihren Aufnahmen hören wir eine gut gebildete, höhensichere und ansprechende Stimme. Nach ihrem Abschied von der Bühne unterrichtete sie in Berlin und Wien Gesang.
Ob sie die Rolle der Anna in der weißen Dame jemals auf der Bühne verkörpert hat, ist nicht mehr festzustellen, vielleicht hat sie die Noten auch nur im Unterricht verwendet. Sie heiratete den brasilianischen Generalkonsul de Sanza Gunnaraez, mit dem sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Brasilien auswanderte, wo sie 1948 in Rio de Janeiro starb. Kurfürstendamm 144 war wohl ihre Berliner Adresse gewesen, an der sie auch unterrichtete.
Ein kurzer Besuch in einem Antiquariat, und schon befindet man sich auf einer Zeitreise, die bis zurück ins 18. Und 19. Jahrhundert führt. Es lohnt sich, nicht immer nur dem aktuellen Mainstream zu folgen…!
Peter Sommeregger 24. November 2019, für
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Der gebürtige Wiener Peter Sommeregger (Jahrgang 1946) besuchte das Humanistische Gymnasium. Er wuchs im 9. Gemeindebezirk auf, ganz in der Nähe von Franz Schuberts Geburtshaus. Schon vor der Einschulung verzauberte ihn an der Wiener Staatsoper Mozarts „Zauberflöte“ und Webers „Freischütz“ – die Oper wurde die Liebe seines Lebens. Mit 19 Jahren zog der gelernte Buchhändler nach München, auch dort wieder Oper, Konzert und wieder Oper. Peter kennt alle wichtigen Spielstätten wie die in Paris, Barcelona, Madrid, Verona, Wien und die New Yorker Met. Er hat alles singen und dirigieren gehört, was Rang und Namen hatte und hat – von Maria Callas und Herbert von Karajan bis zu Ricardo Muti und Anna Netrebko. Seit 25 Jahren lebt Peter in Berlin-Weißensee – in der Hauptstadt gibt es ja gleich drei Opernhäuser, die er auch kritisch rezensiert: u.a. für das Magazin ORPHEUS – Oper und mehr. Buchveröffentlichungen: „‘Wir Künstler sind andere Naturen.‘ Das Leben der Sächsischen Hofopernsängerin Margarethe Siems“ und „Die drei Leben der Jetty Treffz – der ersten Frau des Walzerkönigs“. Peter ist seit 2018 Autor bei klassik-begeistert.de .