Wir sind so wunderbar flexibel geworden. Wir polieren nicht mehr samstags die Familienkutsche, sondern nutzen Carsharer. Hat sich der Partner verabschiedet, findet sich online bestimmt rasch ein neuer. Und die Regale biegen sich nicht mehr unter Unmengen CDs, denn jede Art von Musik ist per Handy verfügbar. Stressfrei, unverbindlich – und irgendwas fehlt.
von Gabriele Lange
Bei jedem Umzug trennt man sich sinnvollerweise von Dingen, die man nicht mehr braucht. Ich bin in den letzten zwei Jahrzehnten ein paarmal umgezogen. Dennoch: Im Keller lagern immer noch etliche meiner Platten. Und mein Dual-Plattenspieler, den ich schon längst nicht mehr benutze. Ich kann mich nicht davon trennen, obwohl ich nahezu jedes Stück auch über einen Streamingdienst abrufen kann. Ein paar Kartons voll CDs habe ich ebenfalls nicht hergegeben, auch wenn ich beim letzten Wohnungswechsel viele Kisten in den Second-Hand-Shop ums Eck geschleppt habe. Viel haben die dafür nicht mehr bezahlt – im Zeitalter von Spotify, Tidal etc. leeren sich überall die Regale, die früher so viel über die Menschen verrieten.
Intensive Erinnerungen
Wenn ich die Augen schließe, dann weiß ich genau, wie die Plattencover aussehen. Mit praktisch jeder Scheibe verbinde ich Erinnerungen. Sehe mich in meinem Zimmer sitzen, die Textbeilage in der Hand, immer wieder aufstehen, die Platte umdrehen – oder mit der Nadel wieder und wieder das Lieblingsstück ansteuern. Selbst bei den CDs weiß ich oft noch, zu welchem Zeitpunkt im Leben ich sie einfach haben musste. Wer sie mir empfohlen hat, wo ich vor dem Kauf etwas darüber gelesen habe. Rund um mein Sofa stapelten sich damals Musikzeitschriften. Als CDs preisgünstig genug wurden, dass man sie den Heften beilegen konnte, war ich monatlich gespannt auf die Neuvorstellungen. Oft holte ich mir am Hauptbahnhof die neuesten internationalen Musikmagazine – denn auf deren Beilegern waren spannendere Sachen zu finden.
Bewusste Entscheidungen
Besuche im Musikladen waren ein meditatives Samstagsvergnügen. Kopfhörer auf zum Probehören – und immer wieder um Nachschub bitten. Mit dem Verkäufer fachsimpeln. Stunden konnte ich so zubringen.
Für jemanden, der nicht über ein unbegrenztes Budget verfügte, war der Kauf einer Platte, einer CD eine sehr bewusste Handlung. Auch ein Fundstück im Second-Hand-Laden oder auf dem Flohmarkt hatte seinen Preis. Wenn ich mich entschieden hatte, trug ich die Beute nach Hause und hörte das Werk durch, einmal, zweimal, x-mal … bis es vertraut war. Las das Begleitmaterial, sang oder brummte irgendwann mit. Je nach Stimmung, Wetterlage, Anlass, Besuch … griff ich später ins Regal und holte die passende Musik heraus.
Nach und nach – und zunächst gegen meinen heftigen Widerstand – haben wir auf Streaming umgestellt. Wir besitzen auch keine riesigen Lautsprecher, keinen Anlagenturm mehr – moderne Miniboxen leisten inzwischen Erstaunliches. Die Steuerung übernimmt das Handy. Platten- und CD-Spieler verstauben im Keller. Jede Art von Musik ist dennoch nur ein paar Klicks entfernt. Wahnsinnig praktisch. Absolut vernünftig. Aber gefühlsarm.
Ich bin alles andere als ein Technikmuffel
Ich habe meine Schreibmaschine glücklich eingemottet, als die ersten brauchbaren Textsysteme auf den Markt kamen. Autoren, deren Kreativität versiegt, weil sie keine Farbbänder für ihre geliebte Erika aus den 60ern mehr bekommen, finde ich seltsam. Ich blühte auf, als ich mir keine Sorgen mehr um Tippfehler machen musste und Texte stressfrei so lange polieren konnte, bis ich zufrieden war. Als ich 1989 bei einem Computermagazin anfing, war die Anschaffung meines ersten Rechners schon fünf Jahre her. Ich liebe Bücher, lese aber schon lange auf dem Display, weil das praktisch ist – und streame eben auch Musik. Schon weil es verrückt wäre, laufend für zusätzliche sauteure Münchner Quadratmeter zu zahlen, um weiter all die Unmengen an Büchern, Platten und CDs lagern zu können, die ich im Lauf des Lebens angesammelt hatte.
Analoge Individualität
Besonders schwierig war die Umstellung beim Fotografieren. Ich hing an meiner uralten, durch mehrere Hände gegangenen bleischweren Agfa, weil ich mit dieser Kamera so verwachsen war, dass ich ohne nachzudenken wunderbare Effekte zaubern konnte. Aber dann war sie irreparabel kaputt. Ich fluchte ein paar Jahre über diese blöden Digitalkameras, die so viel konnten – aber zu denen ich einfach nicht dieselbe Beziehung hatte. Die Bilder fand ich langweilig. Warum? Weil jedem über die Automatik die gleichen Tricks zur Verfügung stehen. Alles schaut irgendwann ähnlich aus. Mein Mann schenkte mir noch einmal eine Analogkamera – und die passenden Filme. Aber es war nicht mehr dasselbe. Es war nicht meine Agfa. Zudem hatte ich vieles verlernt, was ich mal gekonnt hatte. Und ich musste ehrlicherweise zugeben, dass er inzwischen mit seinem Handy viel bessere Bilder machte. Ich dann bald mit meinem auch.
Die Technik macht alles so viel leichter
Sie macht alles jederzeit und nahezu unbegrenzt verfügbar. Zugleich zerstört sie die Individualität, macht (fast) alles austauschbar. Über teuren Film muss man sich keine Sorgen machen. Läuft was schief, löscht man das Bild. Und statt lange zu überlegen, ob das Licht stimmt, ob das Motiv interessant ist, knipst man. Und knipst. Und knipst. Speicher ist genug da. Ist einerseits toll. Und andererseits furchtbar: Nach der Reise, nach dem Erlebnis müsste man eigentlich aussortieren, wegschmeißen. In der Erinnerung schwelgen. Stattdessen macht man neue Fotos. Und kommt kaum noch dazu, anzugucken, was man festgehalten hat. Die guten Bilder teilt man rasch mit Freunden, die gucken kurz drauf. Das war’s. Weiter geht’s.
Zusammenhänge gehen verloren
Als es um Musik ging, wehrte ich mich am längsten gegen den Fortschritt. Ich wollte spüren, gucken, das Cover in der Hand halten. Ich glaube, die Wertschätzung für analoge Plattenspieler hat weniger mit einem besonderen Klang zu tun. Sondern mit dem Versuch, Gefühle wachzuhalten oder wiederzuerwecken, die man früher mit Musik verbunden hat. Als noch nicht alles so leicht verfügbar, so beliebig war. Sogar die blöden kleinen CD-Cover repräsentierten noch die Individualität einer Produktion. Und: Die Musik stand im Zusammenhang. Die Beatles, die Beach Boys, Pink Floyd, Alice in Chains, Faith no More – auch wenn einzelne Songs zu Hits wurden: Oft gab es für ihre Alben ein übergreifendes Konzept, eine verbindende Idee. Und selbst wenn Künstler einfach nur Songs aneinanderreihten, so stand das Album zumindest für den Punkt, an dem sie sich gerade in ihrer künstlerischen Karriere befanden. Und es erzählte etwas über die Zeit, zu der es entstanden war.
Streamingdienste versuchen heute unsere Vorlieben zu erforschen. Sie präsentieren uns einen bunten Mischmasch aus allem, von dem der Algorithmus annimmt, es könnte uns gefallen. Je diverser der Geschmack, desto wilder die Auswahl. Das ist spannend – aber zusammenhanglos. Manchmal stehen Hintergrundinfos bereit – aber man muss sich die Mühe machen, sie aufzurufen. Man kann auch rasch googeln – aber tut man’s? Wir konsumieren weiter.
Heute kennt Spotify zum Beispiel meine Liebe zum Barock – und präsentiert mir bunt zusammengewürfelte Playlists aus allen möglichen Opern, aus unterschiedlichen Produktionen und mit verschiedenen Sängern. Wunderbar – falls ich konzentriert dabei bin, markiere, was ich gut finde und mir dann die Zeit nehme, eine Produktion im Zusammenhang zu hören …
Aus den Augen, aus dem Sinn
Als die Möglichkeit zum Online-Dating aufkam, war das eine großartige Neuerung. Man muss nicht mehr hoffen, dass man den oder die passende PartnerIn bei Freunden, auf der Arbeit oder einem Event kennenlernt, sondern kann erstmals ganz gezielt nach jemandem suchen, der zu einem passt. Für viele bedeutet das allerdings eine komplette Überforderung: Nicht mehr der Zufall spült einem einen Menschen ins Leben – man muss filtern (und sich dabei bewusst machen, was man wirklich sucht). Und warum binden, wenn einem da draußen noch so viele Möglichkeiten offenstehen? Das nächste Profil auf Tinder ist nur einen Wisch entfernt.
Im Stream haben wir Zugriff auf alles. Das ist oft zu viel. In der gigantischen Auswahl wird schnell alles beliebig. Hier ein tolles Lied markiert, da ein Album. Dann kommen die Vorschlagsliste für die nächste Woche, ein paar individualisierte Playlists, die großartige Kompilation zu Mad Men… Man macht fantastische Neuentdeckungen – aber man macht sich oft nicht mehr vertraut. Hier, das musst du hören, sagt die Freundin, der Algorithmus schlägt vor, was zum jüngst Gehörten passt … Man muss sich immer wieder ganz bewusst dafür entscheiden, sich nicht diesem Meer an Möglichkeiten zu verlieren.
Hör – sie spielen unser Lied…
Als ein junger Mann aus meinem Umfeld vor einiger Zeit Abitur machte, plante die Klasse, bei der Zeugnisübergabe für jeden Schüler einen selbstgewählten Song anzuspielen. Er suchte und überlegte – und fragte schließlich uns. Wir hatten jede Menge Ideen, aber nichts davon hätte zu ihm gepasst. Er entschied sich irgendwann entnervt für irgendwas. Immer Kopfhörer auf den Ohren gehabt, immer Musik gehört – aber ihm war kein Stück eingefallen, das ihm wichtig genug gewesen wäre, zu dem er eine so besondere Verbindung gehabt hätte. Offenbar ging es nicht nur ihm so. Wir hörten an dem Abend etliche gut abgehangene Rocksongs …
Mein Mann und ich sind anders aufgewachsen. Wir haben beide eigene Streaming-Accounts, die wir im Lauf der Jahre mit unseren Lieblingsstücken aus den unterschiedlichsten Stilrichtungen und Epochen gefüttert haben. Entsprechend unseren aktuellen Hörgewohnheiten kommen meine Neuvorschläge aber zunehmend aus der Klassik, seine liegen mehr irgendwo zwischen Punk, Avantgarde-Rock oder Bluegrass. Immer wieder finden sich bei uns beiden im Wochenmix oder in einer anderen Playlist Stücke, auf die wir nie selbst gekommen wären. Und während er den Käse reibt und ich den Radicchio für die abendlichen Spaghetti anbrate, spielen wir uns unsere Musik vor, reden darüber und planen Konzertbesuche. Streaming ist für uns deshalb wohl weniger Tinder als eine Art Parship – die Auswahl nutzen, um zur Bindung zu finden.
Meinen Plattenspieler behalte ich trotzdem.
Gabriele Lange, 4. Februar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die Münchnerin Gabriele Lange (Jahrgang 1960) war bei ihren ersten Begegnungen mit klassischer Musik nur mäßig beeindruckt. Als die lustlose Musiklehrerin die noch lustlosere Klasse in die Carmen führte, wäre sie lieber zu Pink Floyd gegangen. Dass Goethes Faust ziemlich sauer war, weil es in dieser Welt so viel zu erkunden gibt, man es aber nicht schafft, auch nur einen Bruchteil davon zu erfassen, leuchtete ihr dagegen ein. Sie startete dann erst mal ein Geschichtsstudium. Die Magisterarbeit über soziale Leitbilder im Spielfilm des „Dritten Reichs“ veröffentlichte sie als Buch. Bei der Recherche musste sie sich gelegentlich zurückhalten, um nicht die Stille im Archiv mit „Ich weiß, es wird einmal ein Wonderrrr geschehn“ von Zarah Leander zu stören, während sie sich durch die Jahrgänge des „Film-Kurier“ fräste. Ein paar Jahre zuvor wäre sie fast aus ihrer sechsten Vorstellung von Formans „Amadeus“ geflogen, weil sie mit einstimmte, als Mozart Salieri wieder die Sache mit dem „Confutatis“ erklärte. Als Textchefin in der Computerpresse erlebte sie den Aufstieg des PCs zum Alltagsgegenstand und die Disruption durch den Siegeszug des Internets. Sie versuchte derweil, das Wissen der Technik-Nerds verständlich aufzubereiten. Nachdem die schöpferische Zerstörung auch die Computerpresse erfasst hatte, übernahm sie eine ähnliche Übersetzerfunktion als Pressebeauftragte sowie textendes Multifunktionswerkzeug in der Finanzbranche. Vier Wochen später ging Lehman pleite. Für Erklärungsbedarf und Entertainment war also gesorgt. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. Unter anderem verfasste sie für Brockhaus einen Lehrer-Kurs zum Thema Medienkompetenz. Musikalisch mag sie sich auch nicht festlegen. Die Liebe zur Klassik ist über die Jahre gewachsen. Barockmusik ist ihr heilig, Kontratenöre sind ihre Helden – aber es gibt noch so viel anderes zu entdecken. Deshalb trifft man sie etwa auch bei Konzerten finnischer Humppa-Bands, einem bayerischen Hoagascht und – ausgerüstet mit Musiker-Gehörschutz – auf Metal- oder Punkkonzerten. Gabriele ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de.