Opernhaus Zürich, 6. Februar 2020
Christoph Willibald Gluck, Iphigénie en Tauride
Foto: Monika Rittershaus (c)
von Charles E. Ritterband
Wachen und Träumen fließen in den antiken Mythen ineinander über – und so sprengt auch die großartige Inszenierung des ungarischen Regisseurs Andreas Homoki von Glucks „Iphigénie en Tauride“ die in unserer Kultur scharf gezogenen Grenzlinien zwischen äußerer und innerer Realität. Sein radikales Regiekonzept verzichtet beim Schauplatz der Handlung und konsequenterweise auch beim radikal abstrakten Bühnenbild auf jegliche Anspielung an barocke Elemente – also die Epoche, in der die Uraufführung von Glucks ebenso radikal konzipierte Oper am 18. Mai 1779 stattgefunden hatte. Einzige, wenngleich stilisierte, verfremdete Anspielung ans Barock: Kostüme und silber-weiße Perücken der Familie Iphigénies: der griechische Heerführer Agamemnon, seine Gattin Klytämnestra und die Kinder Orest und Iphigénie.
Abgesehen von diesen raffiniert eingesetzten barocken Elementen ist der Schauplatz Tauris – Bühnenbild und Kostüme – ein tiefschwarzer Hades, aus dem sich schwarze Gestalten herausschälen und wieder in diese Unterwelt hineintauchen. Tauris ist ein Un-Ort, in Irgendwo und Nirgendwo. Die Inszenierung vermeidet konsequent jegliche geographische Ortbarkeit. Aus dieser albtraumhaft-klaustrophoben, tunnelartigen Innenwelt führt kein Weg hinaus. Vor Kummer ergraut ist das Haar Iphigénies, grau auch die Haare der Rachegöttinnen, der Erinnyen im Chor mit ihren schwarzen Kostümen. Das Schwarz der Bühne, von einem weißen, quadratischen Lichtrahmen gesäumt, wird jäh unterbrochen von gleißend hellen Lichtspalten, von blendend grellen Blitzen.
Dies ist, wie ein Kommentator es formulierte, „ein Riss durch das Weltgebäude“ – die Kluft zwischen dem Gesetz der Götter, das gnadenlos Rache und Tod fordert, und Iphigénie, die sich auflehnt gegen diese mechanische Unbarmherzigkeit, die sich dem blutig eskalierenden Kreislauf aus Gewalt und Gegengewalt, Vergeltung und Mord an der eigenen Familie mutig widersetzt. „Iphigenie“ wird so zur exemplarischen Familientragödie des Altertums.
Jene in dieser Inszenierung immer wieder aufklaffenden Lichtspalten verkörpern den Gegensatz zwischen göttlichem Gesetz und der Revolte einer Einzelnen. Iphigénie wird dadurch zu einer Vorläuferin, ja Galionsfigur der beginnenden Aufklärung. Dass Goethe 1786 Iphigenie auf Tauris als ein Versdrama zu Papier brachte, weist exemplarisch auf den Triumph der Humanität über erbarmungslose göttliche (und Natur-) Gesetze. Iphigenie wird bei Goethe, wie es Andreas Homoki, der Regisseur dieser Inszenierung formuliert, „zum Denkmal der alle Gewalt überwindenden Humanität“, zur Stimme der Vernunft, zum Prototyp einer neuen Zivilisationsstufe (was angesichts der beispiellosen NS-Gräuel mehr als zwei Jahrhunderte später allerdings mit Nachdruck angezweifelt werden muss). Für Goethe war die Figur der Iphigenie „verteufelt human“ – eine pointiert zwiespältige Charakterisierung…
Nicht nur die Regie ist radikal – Glucks Oper selbst war es: Sie wird geradezu als „revolutionäres Gesamtkunstwerk“ charakterisiert – und als Höhepunkt von Glucks Schaffen bewertet. Mehr noch als seine eigentlich berühmtere Oper „Orpheus und Eurydice“. Gluck hebt in seiner Iphigénieradikal die Grenzen zwischen Rezitativen und Arien auf, er verzichtet auf die Vorrangstellung des Gesangs und setzt expressive Deklamationen des Textes, er führt – nach dem Vorbild des griechischen Theaters – Chöre ein, die eine tragende Rolle zu übernehmen haben.
Cecilia Bartoli ist, neben und nach der großen Gruberova, der unbestrittene Liebling des Zürcher Publikums – ein hart an sich arbeitender, sich immer wieder neu erfindender Weltstar. Klug reagiert sie auf die natürlichen Veränderungen des Alterungsprozesses und vollzieht nun konsequent den Schritt vom brillanten Koloratursopran ins lyrische Charakterfach. Ihre Stimme ist warm, ausdrucksvoll, und sie beherrscht sie mit technischer Vollkommenheit. Für die Titelpartie der Iphigénie, einer traumatisierten, innerlich zerrissenen, aber in ihrer Stärke am Ende über die Macht der Götter triumphierenden Figur, ist sie – darin sind sich Kommentatoren einig – die Idealbesetzung.
Phänomenal auch der französische Bariton Stéphane Degout als Iphigénies Bruder und kongenialer Partner: Mit warmem, baritonalen Schmelz verkörpert er Gegensatz und Vereinigung, in perfekt harmonisiertem Zusammenspiel mit seinem Freund Pylade, gesungen vom franco-kanadischen Tenor Frédéric Antoun. Der perfekte Chor der Oper Zürich und das hauseigene Originalklang-Ensemble unter dem Mailänder Gianluca Capuano boten das perfekte musikalische Fundament für diese musikalisch und szenisch einzigartige Produktion.
Dr. Charles E. Ritterband, 10. Februar 2020, für
klassik-begeistert.de, klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.ch
Musikalische Leitung: Gianluca Capuano
Inszenierung: Andreas Homoki
Iphigénie: Cecilia Bartoli
Oreste: Stéphane Degout
Pylade: Frédéric Antoun
Thoas: Jean-Francois Lapointe
Diane: Brigitte Christensen
Orchestra La Scintilla
Chor der Oper Zürich