Ohne Bach und eine seiner Kantaten mag ich keinen einzigen Sonntag mehr erleben wollen. Bach inspiriert mich, das will ich wieder und wieder erspüren, jeden Sonntag aufs Neue.
von Frank Heublein
Foto: Arndt Bär (c)
Heute Morgen ist es „Am Abend aber desselbigen Sabbats“, Kantate am Sonntag Quasimodogeniti, BWV 42. Aha. Der Sonntag nach Ostern heißt kirchensprachlich Quasimodogeniti. Ich bin kein regelmäßiger Kirchengänger. Dennoch habe ich das Kirchenjahr gut im Blick, denn im Radio wird auf BR Klassik jeden Sonntag und an jedem evangelischen Feiertag um 8:05 eine Bach-Kantate gespielt. Also: fast immer eine Kantate, am Ostersonntag letzte Woche wurde mit „Kommt, eilet und laufet“ ein Oratorium zum Osterfest, BWV 249 präsentiert. Die Sendereihe heißt „Mit Bach durch das Kirchenjahr“.
Ich bin im Zwischenreich des noch nicht so richtigen Wachseins. Sonntag morgens kurz nach acht. So höre ich die Bachkantate. Manchmal schemenhaft. Manchmal selektiv, dann wenn ich wieder wegnicke. Manchmal sehr aufmerksam.
Für diesen Zustand gibt es eine passende Kantatenzeile: in BWV 115 heißt es „Ach schläfrige Seele, wie? ruhest du noch? / Ermuntre dich doch!“. Das hat mir am 17. November 2019 einen unfassbar starken Energieschub gegeben.
Heute fällt mir auf, dass BWV 42 mit einem, so empfinde ich es heute, außergewöhnlich langem Orchestervorspiel beginnt. Ein Nachhall auf Ostern? Kommt nicht so oft vor, so eine Sinfonia. Normal heißt bei Bachs Kantanten Eingangschor, solistische Rezitative und Arien, manchmal ein Arioso oder ein solistisch gesungener Choral: Schlusschor oder -choral.
Fein dosiert setzt Bach Instrumente ein. Hervorstechende prachtvolle Trompeten gibt es nur zu festlichen Anlässen. Ich kann die Jahres- und Kirchenzeiten gut nachfühlen in seinen Kantaten.
Wenn ich in diesem halbwachen Zustand meine, nur die halbe Kantate gehört zu haben, dann höre ich sie mir später, wach und konzentriert dann, noch einmal an. Manches Mal aber erwache ich mit der Kantate im schönsten Sinn des Wortes. Ein wunderbares Gefühl, dass – vermutlich wollte Bach das bezwecken – mich energetisch auflädt, wappnet für den ganzen Tag. Wie zum Beispiel oben erwähnt BWV 115 „Ach schläfrige Seele, wie? ruhest du noch? / Ermuntre dich doch!“
Sehr wahrscheinlich ist mein nachfolgender Gedanke, der mir kommt, musikhistorisch nicht belegt. Zuweilen an diesen Sonntagmorgen kommt es mir so vor, als hätte Bach wenig Zeit oder vielleicht auch nur keine allzu große Lust auf Kantatenkomposition gehabt. Die meisten Kantaten sind für den exakten Sonntag im Kirchenjahr komponiert. Nur einige wenige sind „(und) für alle Tage“ zugeeignet. Da wird es doch schon mal ein Motivationsloch gegeben haben?! Denke ich mir, wenn mir die Kantate langweilig vorkommt. Was wie oben erwähnt viel wahrscheinlicher an meinem Zustand als an Bachs Motivation oder Kompositionskunst liegt.
Manche Stellen sind mir vertraut aus anderen Werken. Ich erkenne die Melodie aus dem Klavier- oder Cembalo Konzert E-Dur BWV 1053 wieder in der Kantate BWV 169 Gott soll allein mein Herze haben und in der Kantate BWV 49 Ich geh und suche mit Verlangen. Diese Art Mehrfachverwertung finde ich sehr spannend. Bach moduliert, tauscht Instrument gegen Solist und umgekehrt. Ich stutze kurz, denke, halt, das kenn ich doch! Aber woher gleich? Erinnere ich mich etwa des Hörens aus den letzten Jahren? Ich wende mich detektivisch gegen mich selbst. Vertrautes klingt in einer ganz eigenen Weise neu. Das macht meinen innerlichen Nachforschungen zuweilen schwierig, spannend ist es allemal.
So bleibt es jeden Sonntag wieder eine erneute für mich wunderbare Entdeckung: wie ich die Bachkantate in mich aufnehme. In meiner näheren Umgebung stößt diese Gewohnheit gelegentlich auf Irritation. So bin ich mittlerweile flexibel genug, manches Mal anders – ausnahmsweise! – aufzustehen als mit Bachs Kantate. Unbedingt aber höre ich die entsprechende Kantate nach. Ohne Bach und eine seiner Kantaten mag ich keinen einzigen Sonntag mehr erleben wollen. Bach inspiriert mich, das will ich wieder und wieder erspüren, jeden Sonntag aufs Neue.
Frank Heublein, 19. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dass Johann Sebastian Bach manchmal keine Lust auf die Komposition der sonntäglichen Kantate hatte, kann ich mir nicht vorstellen. Im Gegenteil: Die Kantaten sind durchgängig auf höchstem Niveau, nicht immer die barocken Texte. Die sind besonders bei einigen Rezitativen nicht immer so gut und schon gar nicht so gut wie die verwendeten Bibel- und Choraltexte. Es ist eine unvorstellbare Leistung, dass Bach drei Jahre lang an jedem Sonntag eine neue Kantate (Komposition, Ausschreiben der einzelnen Stimmen, Einstudierung und Aufführung mit Schülern) präsentiert hat. Ich kann keine Lustlosigkeit oder lediglich eine lästige Pflichterfüllung feststellen.
Prof. Matthias Janz
Hallo Herr Heublein,
dass ich Sie gefunden habe ist rein zufällig. Aber auch ich höre am Sonntag morgen auf einem der Kultursender die Bachkantate. Alles gut, alles wunderbar. Seit langem frage ich mich aber, warum außer der Gächinger Kantorei und vielleicht noch zwei anderen Chören so gut wie niemals unsere großartigen Knabenchöre zu hören sind. Fast immer sind es englische, skandinavische, holländische und vor allem japanische Instrumentalisten und Sänger/-innen. Auch der Thomaskantor Schwarz konnte mir, als 15 Thomaner bei uns in Chemnitz zum Konzert auftraten, keine Antwort geben. Musikjournalisten bei den Sendern hüllen sich in Schweigen. Gut, das JSB international ist. Aber dürften es nicht etwas mehr die eigenen „Hochleistungschöre“ sein? Was meinen Sie dazu?
Gerhard Förster