Ravenna Festival, Ravenna, Italien, 21. Juni – 30. Juli 2020
Erföffnungskonzert, 21. Juni 2020
Rocca Brancaleone, Ravenna
Foto: (c) Christian Berzins auf Twitter
von Dr. Holger Voigt
„Momento di rinascita“
Äußerst vorsichtig und behutsam richtet sich das tief in Herz und Seele getroffene Norditalien (Emiglia-Romagna, Lombardei) wieder auf und erwacht mit nicht zu bezwingender Zuversicht und ungebrochenem Stolz zu neuem Leben. Der gesamte norditalienische Kulturgürtel zwischen Mailand und Ravenna wurde Zug um Zug stillgelegt, wie man es sich nie hätte vorstellen können. Das italienische Leid ist keine „Krise“, sondern eine fürchterliche Katastrophe, der weitere nachfolgten.
Man mag sich vielleicht die Augen reiben, aber es ist tatsächlich passiert: Die Musik Italiens ist wieder erwacht. Sie war nie tot, wie wir alle wissen, während wir mit Staunen und Bewunderung die Balkonfenster-Konzerte der unter Ausgangssperre stehenden Bevölkerung im Fernsehen ansahen. Sie war immer präsent und ließ sich nie einsperren, da sie zur italienischen DNA gehört.
Heute – mehrere Monate später – beobachten wir, dass mit Riccardo Mutis couragiertem Schritt nach vorn, die Restauration begonnen hat. Mit einem radikal umgestalteten Programm unter Berücksichtigung sämtlicher Sicherheitsauflagen sowie einer angekündigten Wiederholung vom 6.-15. November meldet sich die unsterbliche Musiknation zurück, der wir alle so viel Lebensfreude zu verdanken haben. Es ist noch viel zu tun, und vieles erscheint auch lediglich provisorisch, doch der Weg ist vorgezeichnet. Man muss ihn nun denn auch tatsächlich begehen.
Fast scheint es im übertragenen Sinn eine Drohung an das Pandemie-Virus zu sein, dass das Eröffnungskonzert in der Rocca Brancaleone, einer aus dem Jahre 1457 stammenden Festung des Mittelalters zur Aufführung kam, in einer atrialen Freiluftfläche der Festungsburg, die dunkel und kühl, jedoch festlich erleuchtet war. Das Publikum saß auf Abstand, Nasen-/Mundschutzmasken waren aufgezogen, bereit, ja geradezu begierig, diesem historischen Ereignis beizuwohnen.
Es entstanden Bilder für die Geschichtsbücher, als Honoratioren und Publikum sich zu Beginn von den Sitzen erhoben, um unter den Masken die italienische Nationalhymne anzustimmen. Die Botschaft: Italien kann nicht gebeugt werden, und die Kunst schon gar nicht.
Nach einer kurzen Ansprache Maestro Mutis, der die tragische Bedeutung der aktuellen Zeit hervorhob und auf die Hoffnung der Zukunft verwies, zugleich aber auch die Bedeutung der Rocca Brancaleone herausstellte und auf die lange musikalische Tradition verwies, konnte das knapp 1 1/4 Stunden dauernde Konzert beginnen, welches per LiveStream übertragen wurde.
Die ausführenden Künstler, also Dirigent, Orchester und Solistin, hatten selbst keine Nasen-/Mundschutzmasken aufgezogen; auch die Orchestermitglieder saßen in üblicher Entfernung voneinander. Ob es ausgemessene Mindestabstände gab, konnte ich direkt nicht erkennen. Mir schien es der übliche Abstand zu sein.
Als Orchester fungierte das von Riccardo Muti 2004 gegründete Giovanile Luigi Cherubini Orchestra, dem er sich mit ganzem Herzen verschrieben hat. Hier kann er den Werdegang der noch jungen MusikerInnen praktisch von Hand formen und gestalten. Auf unzähligen Videos kann der Interessierte sich die konzentrierte Probenarbeit und Werkserarbeitung ansehen. Das Resultat frappiert und begeistert: Das Orchester ist tatsächlich Spitzenklasse!
Als Gesangssolistin für die beiden Mozart-Beiträge trat die 1986 in Italien geborene Sopranistin Rosa Feola auf.
Die Akustik der Open-Air-Lokalität ist nicht gerade die allerbeste: Die Räumlichkeit des Festungsinnenhofes führt zu Nachhalleffekten, wobei einzelne Töne bisweilen auch schon einmal vollständig verschluckt werden konnten. Zugleich gab es durchaus auch Störgeräusche aus dem Bereich des aufgebauten Bühnenpodiums selbst. Aber all dieses spielt an einem solchen Abend tatsächlich keine Rolle. Wichtig war vielmehr, dass das Konzert stattfand.
Das Konzert begann sinfonisch mit Alexander Nikolayevich Scriabins spät-impressionistisch wirkender Komposition „Rêverie op. 24“, die lediglich 76 Takte umfasst und nur wenige Minuten dauert. 1898 komponiert, erinnert sie stellenweise an Samuel Barbers 1938 komponiertes „Adagio for Strings“ und erreicht fast eine ähnliche emotionale Intensität, die der Musik eine wehmütige Färbung verleiht, auch wenn sie die aussichtslose Düsternis Barbers nicht erreicht. Obwohl in der originalen russischen Erstbezeichnung diese Tonschöpfung als „Tagträume“ beschrieben wird, entsteht hier ein eher melancholisch-wehmütiger Klangeffekt, der dem aktuellen Zeitbezug des Konzertabends emotional gerecht wird.
Was kann es nach einer solchen, eher getragenen Einleitung Schöneres geben, als sich mit Zuversicht und Optimismus der Zukunft zu öffnen und daran zu erfreuen? Das kann wirklich nur einer schaffen: Wolfgang Amadeus Mozart. Er schiebt nichts zur Seite, sondern hält inne und läßt uns sich an dem erfreuen, was wir haben und nicht verloren haben. Das „Exsultate, jubilate”, wunderbar optimistisch-hell und kräftig von der Sopranistin Rosa Feola gesungen, erreichte genau diese Stimmungslage: Innehalten, aber mit Herzensfreude und optimistischem Blick auf das Kommende. Selbst das „Et incarnatus est“ aus der großen C-Moll-Messe erklang geradezu beschwörend optimistisch, wiederum makellos und brilliant von der italienischen Solistin vorgetragen.
Den Konzertabschluß bildete Wolfang Amadeus Mozarts „Jupiter Sinfonie“, in der das Orchester seine ganze entfesselte Spielfreude demonstrieren konnte und damit den Appetit weckte, endlich wieder im Konzertsaal Musik hören zu können, die den Hörer von den Sitzen reißt. Ein wunderbares Konzert ging mit Herzensfreude und einer versöhnlichen und zukunftsgewandten Stimmungslage zu Ende.
Danke an alle Ausführenden, Danke an Maestro Muti für dieses von ihm gesetzte Ausrufezeichen!
Dr. Holger Voigt, 24. Juni 2020, nach LiveStream für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at