von Sophie Reyer
Unter dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“ veröffentlichten Clemens Brentano und Achim von Arnim von 1805 bis 1808 eine Sammlung von Volksliedtexten in drei Bänden. Sie enthält Liebes-, Soldaten-, Wander- und Kinderlieder vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Wen mag es verwundern, dass dieser Zyklus bis heute von großer Bedeutung für die Literatur ist? In meinem lyrischen Werk „Wunder, Wunden“ versuche ich dieser Dichtung auf neue Art und Weise nachzuspüren, die aufgrund der Vertonung durch Gustav Mahler von so bahnbrechender Wichtigkeit für die Musikgeschichte war und ist. Dabei bediene ich mich der Collage- und Zitattechnik und versuche, wie in allen meinen Gedichten, dem „Zirpen“ näher zu sein als der gedankenvollen Rede.
frei nach Clemens Brentano
für Andreas
Erntelied
Schneidebeißer
Schitter
vom Höchsten
trotz Trotz
grün und frisch
schon vom Tisch
hinweggemäht
da hilft kein Hüten
kein Gähnen
Tod trotz Tritz:
Tod
:
und alles in Erden
floh zum
Strauch
:
Erkenntnis
Sie schlagen die See
mit ihren Rudern tot
damals wie
heute
:
Fittich fehlt mir
rot von Rudern
des Moments tot
geschlagen mocht mir
damals wie heute kein
Wind wehen: Menschen Blut (weil
nur den Bergen die Sonnen
nah sind: Fittich fehlt
mir)
:
sich nach der guten Zeit sehnen
die sein soll wie Sand am Meer
darinnen viele Blumen stehen und so
gebrochen aber das Herz
(wär ich Sonne wär
ich Mond)
:
wär ich Sonne wär
ich Mond: und wo die
Liebe wohnt
bleiben
:
Herztrommel
an allem Anfang
und bis der letzte
Stern gezählt ist
und wehen werden
obwohl du dann
später einmal
ein Baum bist
Herztrommel
:
Schwing dich Falke Auge
Horn des Moments ersticht
macht nix
der Blick gießt helles Wasser
dennoch (weil das Herz nicht
anders kann als zu
sprechen)
:
Schlaf vergessen
endlich und
in der
Liebe
:
Berg und tiefe, tiefe Tal:
Kaum geboren ist schon
worden das Leben krankt
kannst hier nicht bleiben egal
weiter gehen
:
und wie ihr
aus den Augen alle Engel fliegen:
Musik
:
Wasser treibt Rad an
als Liebe
Abends und Tags
bis gebrochen das Rad
egal sagen und sich
die Hände reichen
:
Wetterwolken ungemolken
und wie der Moment murrt
doch Vorsicht: ein Wort
kann ihn fällen
:
auf Eis gebaut
obwohl die Sonne schien
Wasser festhalten
ist nicht
:
Schleier
kannst ihn nicht lassen er
aber macht dich
faltig und
alt
:
und es an alle Bäume schreiben:
ich liebe
dich
Sophie Reyer, 20. Juli 2020, für
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Sophie Reyer (hier im Bild mit ihrer Mutter Eva Reyer), geboren 1984 in Wien, lebt als Schriftstellerin und Komponistin im 17. Gemeindebezirk Hernals der österreichischen Hauptstadt. 2013 “käfersucht” bei S. Fischer. 2013 Preis „Nah dran!“ für das Kindertheaterstück „Anna und der Wulian“, 2014 Uraufführung „Anna und der Wulian“ an der badischen Landesbühne. Seit 2016 Doktor der Philosophie (Universität für Angewandte Kunst Wien). Sophie Reyer hat 60 Romane, Theaterstücke und Sachbücher geschrieben – Rekord im deutschsprachigen Raum. Auch Prosa und Lyrik sind ihr Metier. Sie leitet Lehrgänge für Film-, Medien- und Theaterwissenschaft an der Universität Wien und der Pädagogischen Hochschule Niederösterreich in Baden. Die Liebe zur Musik begleitet sie seid frühester Kindheit; mit sechs begann Sophie Reyer Klavier zu spielen – und sie studierte Komposition in Graz. „Was mich von jeher fasziniert hat war das Zusammenspiel von Sprache und Klang“, sagt Sophie. „Als Kind konnte ich stundenlang das Wort „parallel“ wiederholen, ich ließ es mir auf der Zunge zergehen, fand es witzig, ohne zu wissen, was es meinte, bekam komische Bilder im Kopf. Sprache hat mich von Anfang an unglaublich fasziniert. Diese Faszination lag vor allem in ihrer Phonetik und nicht in ihrer Semantik: Par. All. Lalla. Rap. Paralell. Prall alle. Palle. Rar. Parle. Para. Laller. (…) Der Weg blieb derselbe: Die Suche nach einer Sprache jenseits herkömmlicher Strukturen.“