Johan Hyunbong Choi (Araspe), Andrea Stadel (Elisa), Aleksandar Timotić (Alessandro). Foto: © Olaf Malzahn
Georg Friedrich Händel, Tolomeo
Theater Lübeck, 29. Oktober 2020
von Dr. Andreas Ströbl
Am 29. Oktober ging die Pressemeldung des Theaters Lübeck heraus: Corona-bedingt ist der Vorstellungsbetrieb vom 1. bis zum 30. November eingestellt. Traurig, aber notwendig. Dabei hatte das durchdachte Krisenkonzept der Theaterleitung mit jeweils einer leeren Reihe und je zwei freien Sitzplätzen zwischen den Zuschauern sehr gut funktioniert – bis nach der dritten Premiere dieser nun unterbrochenen Spielzeit. Zu der war ein alter und von vielen schmerzlich vermisster Bekannter wieder in die Hansestadt gekommen.
Der „Zauberer“ ist wieder in Lübeck. Als der Regisseur Anthony Pilavachi vor fünf Jahren nach handfesten Konflikten das Theater der Hansestadt verlassen hatte, hinterließ er eine verständnisvolle, aber traurige Fangemeinde. Umso größer war die Begeisterung am 9. Oktober, dem Premierenabend von Händels selten aufgeführter Oper „Tolomeo“ – das Lübecker Publikum hat dem Theatermann mit Recht einen herzlichen Willkomm beschert.
Auf die Frage in einem Interview gut eine Woche vor der Premiere, ob diese Inszenierung eine typische Corona-Produktion sei, antwortete Pilavachi mit einem entschiedenen „jein“. In der Tat geht es in der Oper, zumal in dieser aktuellen Interpretation, auch um Menschen, die zueinander wollen und nicht können. Es ist eine Inselsituation, denn der junge ägyptische König Tolomeo – die historische Person, die sich dahinter verbirgt, ist Ptolemaios IX. – ist, nachdem ihn seine Mutter Cleopatra zugunsten seines Bruders Alessandro vom Thron gestürzt hat, ins Exil nach Zypern getrieben worden. Da ihm auch seine Verlobte genommen wurde, will er seinem Leben ein Ende machen. Dass der verhasste Bruder an ebendieser Insel strandet und letztlich alle dramatis personae sich dort einfinden, mag der heutige Zuschauer als etwas bemüht handlungsfunktional empfinden. Es entsteht daraus aber ein dichtes Beziehungsgeflecht in Form eines barocken Verkleidungs- und Täuschungsdramas mit komödiantischen Zügen. Die zumindest sind in dieser Inszenierung voller reizender Einfälle liebenswert herausgearbeitet.
Es beginnt damit, dass es keine große Insel gibt, sondern sich alles auf und zwischen kleinen Eilanden im Wasser abspielt, durch das die Sänger, die hier ebenso gute Schauspieler sind, waten, plantschen, springen, tanzen. Jeder hat einen Tisch mit einem oder mehreren Koffern und macht dort sein eigenes Ding, auf seiner kleinen Insel. Das Wort „Isolation“ rührt vom italienischen „isola“, also Insel, her und das ist wieder einmal ein typischer Pilavachi-Geniestreich. „Überrasch‘ die Leute!“ – so formulierte er im Interview sein dramaturgisches Credo. Überraschend war, dass gar nicht erst der Eindruck entstand, dies sei ein dramma per musica unter viralem Verdikt, weil eben dieses Spiel mit der Isolation in sich völlig sinnig und natürlich war.
Viele kleine szenische Überraschungen lockerten alles auf, was trocken hätte werden können und das galt auch für die musikalische Umsetzung. Ein recitativo secco ist, so der Regisseur, „wie Pasta ohne Sauce“ und so experimentierte er mit dem Lübecker GMD Stefan Vladar in kongenialer Zusammenarbeit, um dem opernhungrigen Publikum ein fein gewürztes dreiaktiges Menü zu servieren, in dem die Corona-bedingten Kürzungen und Striche eher entschlackend wirkten.
Requisiten wie Zwangsjacken und antikisierende Rüstungsteile aus dem Kinderkarnevalsbedarf erinnerten zuweilen an „Einer flog über’s Kuckucksnest“ mit sympathischen Verrückten, die man eben nicht wirklich ernstnehmen darf.
Hinreißend die Szene, in der der chinesische Countertenor Meili Li (Tolomeo) als Schäfer verkleidet seine auf den Tisch gestellten Schafe hingebungsvoll massiert. Die eindringliche Intimität seiner Arie („Stille amare“) angesichts seines vermeintlichen Todes war von großer atmosphärischer Schönheit.
Bei der schmerzhaften Klage seines Bruder-Rivalen Alessandro um die mittlerweile gestorbene Mutter Cleopatra III. hält der zweite Countertenor, Aleksandar Timotić, ein Foto von ihr in den Armen, auf dem Liz Taylor als Cleopatra zu sehen ist. Natürlich ist dies ihre Nachfahrin Cleopatra VII., aber der Scherz ist legitim.
Li kam ebenso wie der erst 28-jährige Timotić in den Tiefen von der Kopf- zeitweise kurz in die Bruststimme, was bei beiden aber durchaus eine glaubhafte Männlichkeit vermittelte. Der Counter-Ambitus beider war zweifelsohne absolut überzeugend und voll umfänglich vorhanden. Diese Stimmen wird man hoffentlich öfter hören.
Die bewährte Ensemble-Sopranistin Evmorfia Metaxaki gab eine leidenschaftliche Seleuce, die unglückliche Verlobte des Titelhelden. Als sie die Ärmel ihres Kostüms wie Schmetterlingsflügel ausbreitet, versucht sie Araspe, der König von Zypern, mit einem Käscher zu fangen. Der in seinem Zorn hilflos wirkende Monarch wird vom Ensemble-Bariton Johan Hyunbong Choi gesungen, der mit seiner fülligen Stimme ein harmonisches Gegengewicht zu den hohen Lagen bringt.
Es gab für Lübecker Verhältnisse ungemein häufig Szenenapplaus, von dem die ebenfalls zum Ensemble gehörende Sopranistin Andrea Stadel als boshafte Königsschwester Elisa den meisten verbuchen durfte. Zu Recht, denn ihr exzentrisches Spiel und die irre Mimik unterstrichen ihre herausragende gesangliche Leistung.
Vom Philharmonischen Orchester der Hansestadt ist man unter der Leitung von Stefan Vladar mittlerweile erstklassige Qualität gewohnt. Vor allem die tänzerische Rhythmik war mitreißend, der Klang brillant und erfrischend, mit delikat ausgearbeiteten Crescendi. Zauberhaft schön formten Orchester und Sänger die Szene zum Ende des Zweiten Aktes (Arie für zwei, Rezitativ und Arioso), „Dite, che fa“. Evmorfia Metaxaki und Meili Li schufen dabei eine für eine Barockoper geradezu romantische Zartheit.
Und ganz am Schluss, nach dem Verklingen der Musik, führen die Sänger ihre höfischen Tanzschritte weiter und erzeugen das sanfte Geräusch der rhythmisch an den Strand der Insel schwappenden Wellen. Eine wunderbare Illusion, passend zu den letzten Worten des Coro: „…e quell’inganno più piace al cor“, eine Täuschung, die dem Herzen besser gefällt als die Realität.
Der Beifall klang eher nach vollem als Corona-reduziertem Haus – auch die vorerst letzte Aufführung von Händels „Tolomeo“ am 29. Oktober war wieder sehr gut besucht – und so darf man sich dann nach überstandener Krise auf die nächsten Zauberstücke freuen. Es wird Überraschungen geben.
Dr. Andreas Ströbl, 9. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at