Die Entwicklung und Karriere vielversprechender NachwuchskünstlerInnen übt eine unvergleichliche Faszination aus. Es lohnt sich dabei zu sein, wenn herausragende Talente die Leiter Stufe um Stufe hochsteigen, sich weiterentwickeln und ihr Publikum immer wieder von neuem mit Sternstunden überraschen. Wir stellen Ihnen bei Klassik-begeistert jeden zweiten Donnerstag diese Rising Stars vor: junge SängerInnen, DirigentInnen und MusikerInnen mit sehr großen Begabungen, außergewöhnlichem Potenzial und ganz viel Herzblut sowie Charisma.
Herni Duparc: Phidylé. Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Sopran, Kunal Lahiry, Klavier (2020)
von Lorenz Kerscher
Mit dem aus einem alten Schlager zitierten Untertitel möchte ich keinesfalls Gerüchte über das Privatleben des 1991 in den Vereinigten Staaten geborenen Pianisten Kunal Lahiry in die Welt setzen, über das ich auch gar nichts weiß. Er hat ganz einfach das Glück eines Tüchtigen, der schon in jungen Jahren mit vielen bemerkenswerten Nachwuchssängerinnen erfolgreich zusammenarbeiten konnte, ebenso auch mit Talenten aus der Männerriege. Hierbei bewährt er sich als einfühlender und aufmerksamer Liedduopartner, seine herausragende Technik dient ihm immer zum gemeinsamen Gestalten und nie zur virtuosen Selbstdarstellung. Wenn man ihn dazu noch zur Bereicherung eines Liederabends ein Solostück spielen lässt, kann man sicher sein, dass er diesem eine klare Klanggestalt gibt und dabei den Zauber feinster Poesie ebenso zur Wirkung bringt wie Steigerungen und Höhepunkte.
Kunal Lahiry – L’Isle joyeuse – Claude Debussy (2020)
Trotz seinem großen solistischen Können wird Kunal Lahiry ebenso wie auch andere auf die Liedkunst spezialisierte Pianisten kaum in den Titelzeilen der Medien erwähnt. Als Star gilt der Sänger, das Klavierspiel wird oftmals als „Begleitung“ abgetan und ist bestenfalls einen Nebensatz wert. Diese Ungerechtigkeit mache ich mir jedoch nicht zu eigen, schon gar nicht bei einem Künstler, dessen wesentlicher Beitrag zum Gelingen der Interpretation Takt für Takt wahrzunehmen ist. Und gerade, wenn man künftige Gesangsstars entdecken will, ist es sehr lohnend, ihm in den Sozialen Medien und auf YouTube zu folgen.
Während er von 2014 bis 2019 bei Wolfram Rieger in Berlin Liedgestaltung studierte, wurde er immer öfter mit dem singenden Nachwuchs, zum guten Teil ebenso talentierten wie charmanten jungen Damen, auf Konzerte, Meisterkurse und Wettbewerbe geschickt. Darunter sind einige Namen, die man sich merken sollte, etwa die Mezzosopranistinnen Marielou Jacquard und Fleur Barron. Aber auch männliche Duopartner wie die Baritone Jeeyoung Lim und Lars Conrad sind zu erwähnen. Mit der jungen isländischen Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir bildet er seit 2019 ein ideal harmonierendes Liedduo, von dem man noch einige Sternstunden der Liedkunst erwarten darf. Ihr feines, helles Timbre und sein filigranes Klavierspiel ergänzen sich insbesondere bei Liedern der deutschen Spätromantik und des französischen Impressionismus zu sehr überzeugenden Interpretationen. Hochwertige Videoaufnahmen belegen dies für die „Wasserrose“ von Richard Strauss und „Apparition“ von Claude Debussy.
Während der Pandemie war Kunal Lahiry keinesfalls zur Untätigkeit verdammt. Man engagierte ihn sehr gerne, wenn es galt, hochwertige Konzerte als Stream zu übertragen. Als die an der Deutschen Oper Berlin wirkende australische Sopranistin Siobhan Stagg nicht zu ihrem geplanten Galakonzert in ihr Heimatland reisen konnte, verpflichtete man ihn als Duopartner, um einen Liederabend aus der Australischen Botschaft in Berlin per Internet zu senden. Und in den für Arte produzierten Hauskonzertserien des Geigers Daniel Hope war er zweimal zu Gast und trat mit den Mezzosopranistinnen Mireille Lebel und Štěpánka Pučálková auf. Mit der inzwischen international anerkannten Sopranistin Fatma Said gab er im Oktober 2020 ein Konzert in Barcelona, das sogar vor Publikum stattfinden konnte, aber ebenfalls im Internet übertragen wurde. Weiteren Auftrieb wird ihm geben, dass ihm soeben für die Jahre 2021 bis 2023 die Förderung im BBC Radio 3 New Generation Artists Scheme zuerkannt wurde.
Manuel de Falla: ‚El paño moruno‘ – Fatma Said & Kunal Lahiry (2020)
Vor allem auch durch seine Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem wird, so erwarte ich, Kunal Lahiry immer mehr auf sich aufmerksam machen. Neben seiner Stärke, sich jederzeit auf andere Duopartner einzustellen, zeigt er auch große Entdeckerfreude in neuartigen Klangwelten der zeitgenössischen Musik. Wenn es etwa gilt, direkt in die Saiten zu greifen oder diese zu präparieren, tut er dies ohne Berührungsängste. Ob sich all diese Experimente als tragfähig erweisen, bleibt abzuwarten, doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ein junger Künstler liegt auf jeden Fall richtig, wenn er sich auf die Zeit einlässt, in der er lebt. Dann gehört ihm wahrscheinlich auch die Zukunft!
Álfheiður Erla Guðmundsdóttir und Kunal Lahiry – George Crumb: “The Night in Silence Under Many a Star”
Über vierzig hochwertige Videoaufnahmen mit ihm finden sich bereits in YouTube und laden zu einem vielseitigen Rundgang durch die Welt des Liedgesangs ein. Man kann schon an diesem Material viel Freude haben und gespannt sein, was an interessantem Repertoire und faszinierenden Gesangskünstlern in nächster Zeit noch hinzukommt. Und noch mehr empfiehlt es sich, ein Auge darauf zu haben, wann man ihn künftig zusammen mit seinen Liedduopartnerinnen und -Partnern live erleben kann.
Dabei ist ihm das Medium Video weit mehr als nur ein Mittel der Wiedergabe von Liedkunst. Er strebt darin auch nach neuen, über den Konzertbetrieb hinausgehenden Ausdrucksmöglichkeiten. In diesem Sinne nutzte er im Juni 2021 das Projekt „Lied me!“ im Liedzentrum Heidelberg, um in einem Kurzfilm Geschlechterklischees aus persönlicher Sicht zu hinterfragen. Den roten Faden bildet ein Lied von Maurice Ravel, das jedoch eine sehr unerwartete Interpretation erfährt. Das entfernt sich weit von der bisherigen Kultur der Liedkunst nach den Vorstellungen des inzwischen aus der Zeit gefallenen Bildungsbürgertums. Doch es gilt heute mehr denn je, neue Wege zu suchen, und Kunal Lahiry wird gewiss einer von denen sein, die dabei wertvolle Impulse geben.
LIED ME! | BREAK OUT. Kurzfilm zu Maurice Ravel: Asie, Nr. 1 from „Shéhérazade“.
Lorenz Kerscher, 8. Juli 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Weiterführende Information:
Biografisch sortierte Playlist in Youtube
Lorenz Kerscher, Jahrgang 1950, in Penzberg südlich von München lebend, ist von Jugend an Klassikliebhaber und gab das auch während seiner beruflichen Laufbahn als Biochemiker niemals auf. Gerne recherchiert er in den Internetmedien nach unentdeckten Juwelen und wirkt als Autor in Wikipedia an Künstlerporträts mit.
„‘Musik ist Beziehungssache’, so lautet mein Credo. Deshalb bin ich auch als Chorsänger aktiv und treffe mich gerne mit Freunden zur Hausmusik. Eine neue Dimension der Gemeinsamkeit eröffnet sich durch die Präsenz vieler, vor allem junger Künstler im Internet, wo man Interessantes über ihre Entwicklung erfährt, Anregungen zur Entdeckung von musikalischem Neuland bekommt und auch in persönlichen Kontakt treten kann. Man ist dann kein Fremder mehr, wenn man ihnen als Autogrammjäger begegnet oder sie sogar bei einem Konzertbesuch im Publikum trifft. Das ist eine schöne Basis, um mit Begeisterung die Karrieren vielversprechender Nachwuchskünstler mitzuerleben und bei Gelegenheit auch durch Publikationen zu unterstützen.“
Rising Stars 9: Judith Spießer, Sopran – endlich Primadonna!