Ladas Klassikwelt 82: „Ach weh“ bei „Aveu“ oder: Wenn man den Zuschauerraum mit einer Imbissbude verwechselt

Ladas Klassikwelt 82: „Ach weh“ bei „Aveu“ oder: Wenn man den Zuschauerraum mit einer Imbissbude verwechselt

Elphilharmonie, Hamburg, Rolltreppe. Foto: © Michael Zapf

Ich habe schon einmal darüber geschrieben, wie sich ein Chor beim Applaus auf der Bühne verhalten sollte. Und das Publikum während eines Konzerts? Theoretisch kennt jeder die Grundregeln: Handy ausschalten, nicht fotografieren/aufnehmen, aber auch nicht reden oder rumzappeln. Kurz gesagt nichts tun, was andere Zuschauer stören und Künstler ablenken könnte. Ob Zuschauer diese Prinzipien befolgen, ist eine andere Sache.

 von Jolanta Łada-Zielke

Ich komme noch zurück auf den Konzertabend mit Werken von Schumann und Brahms, der am Sonntag, 26. September in der Elbphilharmonie mit der Pianistin Ragna Schirmer und dem CPE-Bach-Chors unter der Leitung von Hansjörg Albrecht stattfand.

Ragna Schirmer spielte gerade „Carnaval“ von Robert Schumann, der ganze Chor saß auf der Bühne und ​​hörte ihr zu, ebenso wie das Publikum. Diese Musik nahm uns alle total mit und wir hätten beinahe vergessen, dass wir bald wieder singen sollten. Wie ich erwartete, erklang endlich die 18. und meine Lieblingsklavierminiatur aus dem Zyklus: „Aveu“. Mit unglaublicher Wonne lauschte ich dem Klang des Instruments. Plötzlich hörte ich ein seltsames Rascheln hinter dem subtilen Piano und hob wachsam den Kopf. Zuerst dachte ich, es käme von dem geöffneten Flügel, aber nein, das Instrument funktionierte perfekt. Als die Künstlerin kräftiger in die Tasten schlug, hatte man den Eindruck, dass nicht nur das Innere des Klaviers, sondern auch die gesamte Bühne vibriert. Dieses Geräusch war jedoch anders, völlig fremd.

Mein Blick wanderte zum Publikum, denn von dort kam das Geraschel. Die Zuschauer saßen im Halbdunkeln, die Masken bedeckten alle Gesichter, also gab es nicht viel zu sehen, aber doch… die Person am Rand der dritten Reihe! In den Händen hielt sie etwas, das wie ein Schokoriegel aussah, und versuchte, diesen mühsam aus der Verpackung rauszunehmen. Auf jede zwei von der Pianistin gespielten Sechzehntel kam ein leichtes Knirschen der Verpackungsfolie. Zwar versuchte diese Person es langsam, diskret und so leise wie möglich zu machen, aber auch der kleine Konzertsaal der Elbphilharmonie ist akustisch sensibel.

Mensch, musst du das jetzt machen, dachte ich ein bisschen genervt. Leidest du an Diabetes und bist gerade unterzuckert? Das würde dich entschuldigen. Aber hättest du zumindest einen anderen Moment gewählt, in dem es mehr Forte gibt, das deinen Versuch, den Heißhunger zu stoppen, hätte übertönen können. Hoffentlich hört das die Pianistin nicht.

Vielleicht bin ich ungerecht. Einmal hatte ich im Festspielhaus in Bayreuth während einer Vorstellung einen Hustenanfall und jemand reichte mir hilfsbereit ein Bonbon. Das ist jedoch nicht das Gleiche wie ein Schokoriegel.

Beim nächsten Teil „Promenade“ gelang es diesem Zuschauer endlich, den Snack auszupacken, er biss rein und begann ihn zu essen – unter der Maske, was lustig aussah. Mir war aber nicht zum Lachen zumute: Ich konnte mein schönes, wunderbares, live-aufgeführtes „Aveu“ nicht genießen! Das tat echt weh: mangiucchiato frusciante statt musikalisches appassionato!

Der ganze Brahms-Schumann-Abend dauerte ungefähr eine Stunde und 45 Minuten ohne Pause. Das scheint lang genug zu sein, um hungrig zu werden. Aber was soll man einem solchen Gast sagen? Er oder sie kann sich beleidigt fühlen und nicht mehr zum Konzert kommen. Die Musiker brauchen ihr Publikum, jetzt nach dem dritten Lock-Down mehr denn je, auch wenn dieses weniger in die Sache eingeweiht scheint. Allerdings ändert das nichts daran, dass zwischen Imbissbude und Konzertsaal ein riesiger Unterschied besteht.

Jolanta Łada-Zielke, 4. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jolanta Łada-Zielke, 50, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.

Ladas Klassikwelt 81 – Aimez-vous Brahms? (Teil 2)

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