„Wahnsinn“ – ins Blut, ins Mark geht der erste Ton... und man ist Lise Davidsen sofort verfallen!

Lise Davidsen, Bryan Wagorn, „The Art of Lise Davidsen“,  Hamburgische Staatsoper, 19. November 2021

Foto: Regina Ströbl

Hamburgische Staatsoper, 19. November 2021
Lise Davidsen, Sopran, und Bryan Wagorn, Klavier

„The Art of Lise Davidsen“ – ein Abend mit Liedern und Arien 

von Dr. Andreas Ströbl

Nüchtern kann man über diesen Abend nicht berichten. Was für eine Stimme! Und was für ein Ausdruck! Dazu die einnehmende sympathische Erscheinung dieser skandinavischen Naturgewalt! So mancher Ehemann mochte sich auf dem Heimweg von seiner Gattin fragen lassen, ob sie sich Sorgen machen müsse – zumindest dem Rezensenten ging es so.

In der Tat ist Lise Davidsen ein Weltstar zum Verlieben. Man weiß gar nicht, welche ihrer Eigenschaften beim Schwärmen zuerst hervorgehoben werden müssen. Ob es ihr unglaubliches stimmliches Volumen ist, zumal in den Höhen und der Mittellage, oder ihre Vielseitigkeit im Ausdruck, verbunden mit einer angemessenen mimischen und gestischen Darstellung, oder ihre erfrischend natürliche Art, fernab jeglicher Allüren.

Bereits nach dem ersten Stück, der Arie der Leonora „Pace, pace, mio Dio“ aus Verdis „La Forza del Destino“ gab es die ersten „Brava!“-Rufe. Lise Davidsen schaffte es, den großen Saal bis in die letzte Fuge mit ihrem satten Sopran zu füllen, Ihre Stimme drang bis ins innerste Nervensystem der Zuhörer.

Lise Davidsen (Sopran), Foto: © Wilfried Hösl

Am Steinway-Flügel begleitete sie der kanadische Pianist und Assistenzdirigent der „Met“, Bryan Wagorn. Sie hätte problemlos auch gegen ein großes Orchester von Mahler-Größe ansingen können, aber die beiden bildeten ein ausgewogenes, harmonisches Miteinander, weil der junge Pianist kongenial seelische Tiefe und sensibles Spiel an Davidsens Gesang schmiegte, diesen vorbereitete und für einen entsprechend feinnervigen Ausklang sorgte, wann dies sinnfällig war.

All die verzweifelten Frauen, die kurz vor ihrem Tod den ganzen Lebensschmerz aus sich weinen, schreien, singen! Die Desdemona aus Verdis „Otello“ mit „Ave Maria“ oder Manon Lescaut aus Puccinis gleichnamiger Oper mit „Sola, perduta, abbandonata“ – die Sopranistin sang keine dieser Nummern, sondern war die jeweilige Person. Das mag erklären, weshalb sie zwischen jeder Arie immer einen Moment hinter der Bühne verschwand. Der Pianist Géza Anda, der an diesem Abend 100 Jahre alt geworden wäre, wusste, „um Interpret zu sein, kann man ein Werk nicht »lernen«, man muss völlig eins mit ihm werden… Die Identifikation soll so vollkommen sein, dass man das Werk nicht mehr »spielt« oder »wiedergibt«, sondern jeden Abend aus dem Innern neu hervorbringt.“

Exakt das trifft auf Lise Davidsen zu und das macht ihre Kunst so authentisch. Sicher hat sie innegehalten, einen Schluck Wasser getrunken und ist dann eins mit der nächsten Figur geworden.

Ganz anders gefärbt waren die sechs Lieder op. 48 ihres Landmanns Edvard Grieg nach Texten deutscher Dichter. In einer kurzen Ansprache an das Publikum entschuldigte sie sich für ihr schlechtes Deutsch, weswegen sie ins Englische wechselte. Damit eroberte sie sich auch den letzten, möglicherweise noch verbliebenen Rest der Publikumsherzen, denn ihre unkomplizierte, ja bodenständige Art ließ keine Distanz zwischen großartiger Künstlerin und begeistertem Auditorium zu.

Die Interpretation der Texte war makellos und einfühlend – keine Rede von schlechtem Deutsch. Musikalisch war dieser kleine Zyklus ein Heimspiel und man mochte sich vorstellen, wie die charmante junge Frau mal eben einen norwegischen Fjord durchschwimmt, um dann auf einem Granitfelsen eine hinreißende Brünnhilde zu geben.

Auch das Russische beherrscht Lise Davidsen, wie eine Kennerin der Sprache bestätigen konnte; das gilt desgleichen mentalitätsbezogen für die Verkörperung der tiefen Schwermut, die aus dem Arioso „Ach, istamilas ja gorem“ aus Tschaikowskys „Pique Dame“ spricht. Damit begann nach der Pause der zweite Teil; die Sängerin betrat erst mit ihrem Einsatz die Bühne und gab so dem Publikum die Möglichkeit, dem Pianisten den verdienten Einzelapplaus zu schenken. Ein sehr sympathischer Zug!

Die Stickerei-Arie der Ellen Orford aus Brittens „Peter Grimes“ ergab einen atmosphärischen Bruch; auch in dieser weniger schmiegsamen Musik würdigte dieses Ausnahmetalent angemessen Text und Rolle und bewies ein erneutes Mal seine unglaubliche Vielfältigkeit. Voll flehenden Schmerzes war der zweite Puccini des Abends, ihre „Tosca“ mit „Vissi d’arte“ gab sie mit glutvoller Leidenschaft.

Vor fünf Liedern von Richard Strauss aus op. 27 und 39 ergriff sie noch einmal das Mikrophon und die Gelegenheit, die deutsche Musikkultur zu preisen. Aus der Wiedergabe dieser Lieder sprach erneut Sensibilität und ein zartes Liebkosen von Text und Ton. Nach dem zu Herzen gehenden „Morgen“ herrschte tatsächlich Totenstille im Saal – bis einer derjenigen Ignoranten, die naiven Beifall mit echter Würdigung einzigartiger Kunst verwechseln, zu klatschen begann und sofort ausgezischt wurde.

Das war tatsächlich der einzige Wermutstropfen des Abends: Trotz der laut hörbaren Erinnerung vor dem Beginn, die Mobiltelephone auszustellen, daddelte eines dieser Geräte in einer Piano-Stelle. In ebendiese Stellen wurde wieder mehrfach hineingehustet, obwohl viel Zeit war, sich zwischen den Stücken Hustenbonbons auszuwickeln oder sich seinem Bedürfnis hinzugeben, wenn man es denn nicht schafft, – und das geht! – sich einfach mal zusammenzureißen. Zwischen den Liedern wurde jedesmal geklatscht; manchmal war das verzeihlich, dann wieder absolut unangebracht. Um den Hals fallen mochte man aber dem jungen Herrn, der nach einer der furiosen Arien nur „Wahnsinn!“ flüsterte.

Foto: Regina Ströbl

Das beseelte Publikum erklatschte sich zwei Zugaben, und da durfte natürlich der „Meesta“ nicht fehlen: Elisabeths Gruß an die teure Halle aus Wagners „Tannhäuser“ hatte man sich ja schon die ganze Zeit heimlich gewünscht und „I could have danced all night“ aus Frederick Loewes (Fritz Löw) „My Fair Lady“ beschloss mit liebenswürdiger Leichtigkeit einen denkwürdigen Abend.

Beim Schlussapplaus stand das ganze Haus, und man kann nur den netten Zuhörer zitieren: „Wahnsinn“!

Dr. Andreas Ströbl, 20. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Lise Davidsen, Exklusiv-Interview mit dem Wagner-Stern aus Norwegen, Teil 1

Lise Davidsen, Exklusiv-Interview mit dem Wagner-Stern aus Norwegen – Teil II klassik-begeistert.de

Lise Davidsen, Exklusiv-Interview mit dem Wagner-Stern aus Norwegen – Teil III klassik-begeistert.de

 

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