English National Opera: „La Bohème“ ohne Tenor und ohne Muff

Giacomo Puccini,“La Bohème”  English National Opera ENO im London Coliseum, 5. Februar 2022,

Die zeitlose Produktion des Altmeisters Jonathan Miller aus dem Jahr 2009 wird von der English National Opera ENO bereits zum fünften Mal wieder aufgenommen – und sie ist trotz ihrer klassischen Perfektion nun doch schon etwas in die Jahre gekommen. Da der Tenor indisponiert war, musste sehr kurzfristig der junge Adam Gilbert den Rodolfo neben der Bühne singen, auf der Bühne mimte der Koreaner David Junghoom Kim schlecht und recht den romantischen Liebhaber der Mimì (ausgezeichnet: die irische Sopranistin Sinéad Campbell-Wallace).

Giacomo Puccini,“La Bohème”
English National Opera ENO im London Coliseum, 5. Februar 2022, gesungen in englischer Sprache

von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Foto)

 Als Mirella Freni am 11. November 2013 an der Staatsoper Wien ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum feierte, überreichte ihr der damalige Staatsoperndirektor Dominique Meyer den Original-Muff aus der Requisite, welche die Freni fünf Jahrzehnte zuvor als sterbende „Mimì“ in Händen gehalten hatte – eine, wie ich damals fand, überaus berührende Geste. Der Muff ist ja gewissermaßen das Wahrzeichen der Mimì, deren chronisch kalte Hände Rodolfo bekanntlich zur weltberühmten Arie „Che gelida manina“ inspirieren. An der ENO, der English National Opera, ist vieles anders: Gesungen wird prinzipiell auf Englisch, was vielleicht bei Wagner noch funktionieren mag, was aber bei den italienischen und französischen Opern, wo die Sprache mit der Musik untrennbar verbunden ist, eigentlich nicht geht. Und so kam diese „Bohème“ wie ein Musical mit den Melodien Puccinis daher – zumal Englisch ja die Sprache des Musicals ist.

Englische Prüderie

Vor allem in einem Detail (das wohl nicht allzu vielen Besuchern dieser Produktion aufgefallen ist) unterschied sich die ENO von wohl sämtlichen anderen Opernhäusern weltweit: In dieser „Bohème“ gab es im letzten Akt keinen Muff. Die von der frivolen und streitlustigen Verführerin zur rührenden Betreuerin der sterbenden Mimì geläuterte Musetta brachte der Todkranken statt einem Muff – ein paar Handschuhe mit in die Mansarde. Und dies hatte, daran besteht kein Zweifel, nur einen Grund – nämlich keinen sachlichen, sondern einen sprachlichen. Genauer: Es handelte sich um eine Manifestation traditionell englischer Prüderie. Weshalb? Das Wort „Muff“ hat in der englischen Umgangssprache, zumindest in ihrer vulgären Spielart, eine ganz andere Bedeutung als jene der händewärmenden Pelzrolle. Es umschreibt nämlich das weibliche Geschlechtsorgan – und das darf auf der Opernbühne nicht sein. Deshalb ersetzte man im englischen Text und in der englischsprachigen Aufführung der „Bohème“ den Muff kurzerhand durch die unverfänglicheren Handschuhe, die ja bekanntlich demselben Zweck dienen.

Und noch etwas war anders in dieser sehr klassischen, und mittlerweile schon ziemlich verstaubten „Bohème“: Der koreanische Tenor klagte unmittelbar vor der Aufführung am 5. Februar über akute Indisponiertheit – und deshalb sprang der ausgezeichnete Engländer Adam Gilbert, Absolvent der renommierten Guildhall School of Music, am linken Rand des Bühnenportals als Rodolfo ein, während der Koreaner den stummen Liebhaber mimte. Der Effekt war etwas grotesk – aber stimmlich meisterte Gilbert den Part tadellos. Man wird von ihm als Tenor an der ENO noch hören.

Die irische Sopranistin Sinéad Campbell-Wallace gab die Mimì mit einer warmen, eher tief gelagerten Stimme, die leider im ersten Akt zu leichtem aber ständigem Vibrieren neigte. Die britische Sopranistin Louise Alder verlieh der Musetta all die darstellerische  Frivolität, das explosive Temperament, das diese schillernde Figur fordert – und stimmliche Brillanz, mit der sie die anspruchsvollen Koloraturen meisterte.

Der mehrfach ausgezeichnete britische Operndirigent Ben Glassberg leitete das Orchester der ENO zur melodiös-sinnlichen und doch stets präzisen Interpretation der herrlichen Musik Puccinis an – seiner vielleicht beliebtesten Oper.

Dr. Charles E. Ritterband, 7. Februar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 Regie: Jonathan Miller
Dirigent: Ben Glassberg
Mimì: Sinéad Campbell-Wallace
Rodolfo: David Junghoom Kim / Adam Gilbert
Musetta: Louise Alder
Marcello: Charles Rice
Colline: William Thomas
Schaunard:  Benson Wilson

Chor und Orchester der English National Opera
Koproduktion mit Cincinnati Opera und Gran Teatre del Liceu, Barcelona

Richard Wagner, Die Walküre, English National Opera im London Coliseum, 14. Dezember 2021

Philip Glass, Oper „Satyagraha“,English National Opera, 23. Oktober 2021

 

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