Vicky und das 9-Liter-Ticket

Klavierfestival Ruhr, Marc-André Hamelin und Leif Ove Andsnes   Mülheim an der Ruhr, Stadthalle, 1. Juni 2022

Foto: (c) Klavierfestival Ruhr

Das Gipfeltreffen von Marc-André Hamelin und Leif Ove Andsnes in Mülheim wird von Teilen des Publikums nur bedingt mit Aufmerksamkeit bedacht

 Mülheim an der Ruhr, Stadthalle, 1. Juni 2022

John Adams (*1947) – Hallelujah Junction

Robert Schumann (1810-1856) – Sechs kanonische Studien für Pedalflügel op. 56 (Transkription für zwei Klaviere von Claude Debussy)

Claude Debussy (1862-1918) – En blanc et noir für zwei Klaviere

Igor Strawinsky (1882-1971) – Le sacre du printemps

 von Brian Cooper

 Betritt ein Intendant vor dem Konzert die Bühne, steht nicht selten eine Hiobsbotschaft bevor – zum Beispiel ist ein Künstler kurzfristig erkrankt. Oder es wird einfach nur eine Programmänderung bekanntgegeben, die ein Raunen im Publikum hervorruft. (Bei Benjamin Grosvernors Matinee im Théâtre des Champs-Elysées Mitte April wies sogar noch das Programmheft die ursprünglich vorgesehene Schumann-Fantasie op. 17 aus, doch keine 30 Sekunden vor dem Auftritt des Pianisten kündigte die Intendantin die Kreisleriana an. Ist ja auch nur eine Opuszahl weniger.)

Der verdiente Intendant des Klavier-Festivals Ruhr, Franz Xaver Ohnesorg, der im kommenden Jahr nach 28 Jahren das Zepter an Katrin Zagrosek weitergibt, fand wie immer freundliche Worte für sein verehrtes Publikum, und natürlich wurden vor allem die Sponsoren mit sehr viel Honig bedacht, Baklava ist gar nichts dagegen. Und er macht das gut, muss man wohl auch, die Hälfte der Ruhr-Programmhefte besteht ohnehin aus den Namen der Förderinnen und Förderer unterschiedlichster pekuniärer Potenz. Man sei aber auch so froh, sprach François-Xavier Sanssouci, Marc-André Hamelin und Leif Ove Andsnes gewonnen zu haben, und dann noch mit diesem tollen Programm.

Stimmt! Aber wo Herr Ohnesorg schon mal auf der Bühne stand, hätte doch eine nette Erinnerung, bitte die Handys auszuschalten, Unschönes verhindern können… Neinnein, das verehrte Publikum weiß sich doch sicher zu benehmen. Weiß es eben nicht. Mindestens dreimal klingelten Handys. Und ein Konzert, auf das mein Begleiter und ich uns riesig gefreut hatten, war auch aus anderen Gründen nur bedingt zu genießen.

Das lag selbstredend nicht etwa an den beiden großen Pianisten, die auf ihrer Tournee durch Europa (u.a. London und Wien) auch nach Mülheim kamen. Eine zappelige Schulklasse, eifrige Dauerblätterer im Programmheft (wie oft kann man eigentlich eine Künstlervita lesen?) und zu guter Letzt ein Mensch, der es vorzog, in der Mülheimer Stadthalle einzuschnarchen, und das beim Sacre (!), komplettierten den Murks.

Zwei Tage vor dem Konzert die Meldung des Klavier-Festivals Ruhr: „Sie haben für dieses Konzert Karten im Hochparkett gekauft. Wie sich nun kurzfristig herausstellt, muss das Hochparkett am 1. Juni aus technischen Gründen gesperrt werden. Wir werden deshalb ihre Karten umtauschen – Sie erhalten neue, bessere Plätze im Parkett!

So viel Fettgedrucktes kann keine Hiobsbotschaft sein. Auch wenn schwammige „technische Gründe“ nicht selten für innere Anspannung sorgen – zumindest, wenn sie von der Deutschen Bahn angeführt werden. Bessere Plätze? Objektiv ja. Und wer gern Sabotageakte einer Schulklasse beobachtet, der war in Reihe 7 ebenfalls gut aufgehoben, denn in den Reihen 4 und 5 saß eine solche Gruppe. Und die war groß und hat sich prächtig unterhalten. Nicht im Sinne von divertirsi, sondern im Sinne von Quatschen, und das durchaus bewegungsfreudig und mit gezückten Handys. Es sah manchmal aus wie Stille Post, so viel wurde von Person zu Person gewispert und und von Grüppchen zu Grüppchen getuschelt, und überhaupt muss das alles inhaltlich furchtbar komisch gewesen sein, denn es wurde sehr viel gekichert.

Mich interessiert natürlich, was eine solche Gruppe bewegt (!), etwas zu tun, das sie auch im Freien oder im Café tun könnte, und das Andere stört, die nur dort sitzen können, wo sie eben sind, und nicht woanders. „Warum bist Du hier?“, frage ich denn auch Vicky, eine der Rädelsführerinnen, zur Pause, die das nicht so ganz zu beantworten weiß. Man sei mit der Schule da, irgendwas mit Tanzprojekt, und überhaupt, man höre doch zu. Kann sein, dass Vicky und ihre Klasse vereinzelt taktweise zuhörten. Ansonsten dominierte lebhafte Unterhaltung. Dass es Menschen auf der Bühne gibt, die sich auf diesen Abend penibel vorbereiten, und andere Menschen, die selbstverständlich Anreisen von dreistelliger Kilometerzahl auf sich nehmen, um Großes zu erleben, wurde von der Bezopften mit stumpfer Stirnfurche quittiert.

Warum ist noch niemand auf die Idee gekommen, Schülerinnen und Schüler in Zweiergruppen im ganzen Saal zu verteilen und so diese elende, sich hochschaukelnde Gruppendynamik zu verhindern? Wo war überhaupt die Lehrerschaft? Und könnten Konzertveranstalter nicht im Vorfeld warnen, wie auf Zigarettenpackungen: „Große Gruppen Pubertierender könnten Ihren Konzertgenuss beeinträchtigen.“ Dann wüssten ich und meinesgleichen, dass wir besser zuhause bleiben.

A propos Anreise: Am ersten Tag des 9-Euro-Tickets wurde die in vollen Zügen genossen. Man will ja auch was für die Umwelt tun. Insbesondere ein durchaus als verhaltensauffällig zu bezeichnendes Männerquartett sprach laut und viel und tat sich mit dem Wortspiel hervor, ein „9-Liter-Ticket“ sei eine saumäßig gute Idee, Freibier sei schließlich auch eine super Sache. Die Herren – natürlich allesamt Maskenverweigerer, das passt ob der an den Tag gelegten akustischen Rücksichtslosigkeit ins Bild – waren auf dem Weg nach Dortmund. Man fuhr zu Kiss. Und sie hätten sicher nie gedacht, dass sie es mal in einen Klassik-Blog schaffen.

Wie war denn nun das Konzert in Mülheim? Das kann die geneigte Leserschaft sicher an anderer Stelle nachlesen. Kiss-Fans und Schülergruppen würden emphatisch „GEIL!“ rufen. Das Wenige, das ich von der ersten Hälfte mitbekam, war sensationell: Da war etwa die kaum zu begreifende Präzision im hochkomplexen und gut anhörbaren Hallelujah Junction des Minimalisten John Adams, der noch so viel mehr ist als nur Minimalist, und von dem ich mich eh gern als großer Fan oute; und auch Schumann und Debussy wären sicher eine Wonne gewesen, hätte man ohne Ablenkung lauschen dürfen.

Und das Fest, das ein zufällig angetroffener Bekannter aus Aachen im Pausengespräch ankündigte? Das Fest war eben genau das, ein Fest. Dieser Sacre für zwei Klaviere, mit diesen beiden Klaviergiganten, war einfach nur genial, phänomenal und, ja, so richtig geil. Und in Reihe 16, weit weg vom rastlosen Rudel, war es auch hervorragend zu hören. Man kann nur hoffen, dass die beiden Pianisten an den leisen Stellen nicht das Schnarchen aus Reihe 18 hörten. Alles Andere aus den vorderen Reihen dürften sie mitbekommen haben.

Dr. Brian Cooper, 3. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at

Igor Levit, Klavier Orchestre de Paris Konzerthaus Dortmund, 29. Mai 2022

BRSO, Yannick Nézet-Séguin, Dirigent Elbphilharmonie, 11.Mai 2022, Alte Oper, Frankfurt, 12. Mai 2022

Bedingungslos in die Musik eintauchen klassik-begeistert.de, 6. Mai 2022

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