Es sind nicht nur die perfekten Inszenierungen und die erstklassigen Sängerinnen und Sänger, welche Glyndebourne als englisches Opern-Eldorado von Weltruf etablierten – es ist auch der herrliche Park, in dem in der verlängerten großen Pause jeder Aufführung das rituelle Picnic abgehalten wird. Es ist unmöglich, nach dieser Aufführung, der ursprünglich aus dem Jahr 2012 stammenden (und seither unübertroffenen) Produktion der „Nozze di Figaro“ unter der Regie von Michael Grandage, welche die barocke Handlung aus dem späten 18. Jahrhundert geradewegs ins Sevilla der 1960er-Jahre versetzt, nicht in Euphorie zu verfallen:
Ich habe noch nie und nirgendwo eine bessere Produktion von Mozarts Meisterwerk gesehen. Orchester, Sänger und Sängerinnen: höchste musikalische Qualität. Subtile Pointen und wohldosierte Komik in der durchwegs intelligenten Regie – und ein Bühnenbild von einer Perfektion und Schönheit, wie es sonst auf den allerwenigsten Bühnen zu sehen ist. Die „Nozze“ mit ihren zeitlosen psychologischen und sozialen Problemstellungen lassen sich mühelos vom Barock in jede Epoche transponieren – ins Sevilla der 1960er-Jahre und in die „Me-Too-Ära“ des Heute. Zeitlos ist jedenfalls das Bühnenbild mit einem facettenreichen maurischen Palast, der auf den Bühnen der Welt seinesgleichen sucht.
Glyndebourne (Fotos), 9. Juni 2022
Wolfgang Amadeus Mozart, Lorenzo da Ponte (Libretto),
Le Nozze di Figaro
London Philharmonic Orchestra
The Glyndebourne Chorus
Aidan Oliver, Dirigent
von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)
Was der stilvolle Theaterbau neben dem Landhaus, in dessen prachtvollem Orgelsaal vor Jahrzehnten (genauer: im Jahr 1934) diese großartige Operntradition ihren Anfang genommen hatte, in den sommerlichen Festivals zu bieten hat, ist längst Legende – und übertrifft bei weitem alles, was die großen, etablierten Häuser weltweit an Opern auf ihre Bühnen stellen. Glyndebourne hat eben einen fantastischen „spirit“, der inzwischen, mit respektablen Erfolgen, von anderen Sommerfestivals nachgeahmt wird – an deren Spitze zweifellos Garsington.
Eine der Spezialitäten (abgesehen vom Picnic im Park und dem exquisiten Stil des Publikums) von Glyndebourne ist das Engagement von hervorragenden jungen Sängern – oft der Weltstars von morgen. Die Kassenschlager von heute werden hier umgangen: Eine Netrebko wäre auf der Bühne von Glyndebourne ebenso undenkbar wie ein Kaufmann.
Aber – soeben habe ich im Shop die Aufnahme einer Mozart-Oper aus den 1960er-Jahren erstanden. Und in dieser singt kein anderer als Luciano Pavarotti. Ein früher Pavarotti – bevor ihn alle großen Häuser weltweit auftreten ließen. Typischerweise war Glyndebourne zuerst…
Ein englisches Sommerritual
Der Park des alten Landhauses Glyndebourne mit seinen exotischen Pflanzen und seinem einmaligen Rosengarten, seinem romantischen Seerosenteich, und den grasenden Schafen am Rande der Anlage macht jedem botanischen Garten spielend Konkurrenz. Glyndebourne ist wie Ascot, Wimbledon und Henley ein Inbegriff des englischen Sommers: Die Damen in ihren aufwendigen Abendtoiletten und die Herren in Smoking oder Dinner Jacket (Dress code!) trotzen mit der sprichwörtlichen „stiff upper lip“ dem Nieselregen, der das rituelle Picnic unter den alten Bäumen und am Rande des Teiches gelegentlich begleitet, denn der Regen ist ebenso Teil des englischen Sommers wie eine Regatta auf der Themse und das in „My Fair Lady“ persiflierte Pferderennen.
Während des ersten Aktes nimmt der Butler die Utensilien aus dem blitzblank polierten Bentley und deckt, mit Tafelsilber und Kristall, den Tisch für die Pause. Aficionados haben die Champagnerflasche an einen Strick geknüpft und in den Teich getaucht, der die Temperatur des köstlichen Getränks bis zur Pause bewahrt. Wer hier in Glyndebourne ein Opernticket ergattert, hat entweder viel Glück oder Geld – oder beides. Oder gehört zur „Upper Class“, für die all dies eine Selbstverständlichkeit bedeutet. Allerdings kann man auch per Zug und Bus (ab dem reizenden Städtchen Lewes) anreisen – und vielleicht sogar auch ein leistbares Ticket in den oberen Rängen ergattern. Akustik und Sicht sind von allen Plätzen hervorragend.
Sängerische Spitzenleistungen, exzellentes Orchester, spritziger Humor
Das renommierte London Philharmonic Orchestra unter Giancarlo Andretta interpretierte Mozarts herrliche Musik mit Leichtigkeit, Temperament, Verve und Subtilität, unterstützte harmonisch die durchwegs erstklassigen sängerischen Leistungen, ohne diese je zu übertönen. Die Susanna der Hera Hyesang Park , welche schelmisch und selbstbewusst die Avancen des Grafen ausmanövriert – ihrer sozial untergeordneten Position im Hause Almaviva zum Trotz – brillierte mit strahlender Stimme und geradezu akrobatischer Leichtigkeit. „Petite“ von Gestalt – nichtsdestoweniger mit kraftvoller, kristallklarer, nuancenreicher Stimme. Ihr galt denn auch vor allem der überwältigende Beifall des Publikums im Schlussapplaus. Für mich war der Figaro des Brandon Cedel der Held des Abends.
Mit außergewöhnlich tiefer, überaus wohlklingender Stimme, maskulin und sexy – ein glaubhafter Widersacher des durch und durch playboyhaften und von einer Falle in die andere tappenden Grafen Almaviva, mit dessen wohlklingender Baritonstimme er sich erfolglos bemühte, die hübsche junge Susanna zu umgarnen und sich bei seiner Gattin aus der Schlinge zu ziehen. Ein reicher, arroganter doch letztlich unreifer Schönling, der blindlings und unbeholfen von einer Falle in die nächste tappt – und gleich zu Anfang der Inszenierung in einem feuerroten Sportcoupé vorfährt. Darstellerisch ausgezeichnet und psychologisch ausgefeilt, während Figaro, der mit humorvollen Pointen brilliert, in seinem „Se vuol ballare, signor contino“ Anfang des ersten Aktes die berechtigte Wut über seinen Arbeitgeber mit allzu viel stereotypem Zähnefletschen sichtbar macht.
Der Cherubino von Emily Pogorelc glänzte mit glatter stimmlicher Schönheit und teenagerhaftem Schalk – zweifellos einer der Stars dieses an glanzvollen Stimmen reichen Abends. Die Gräfin der Amanda Woodbury faszinierte mit warmem Timbre und berührender Ausstrahlung; ihr berührendes „Porgi, amor“ war zarter und sensibler, als ich es je zuvor gehört hatte.
Das Bühnenbild (Christopher Oram) bot neben Gesang und Orchester das größte Faszinosum dieses Abends. Da wurde auf die sinnvoll eingesetzte Drehbühne ein detailliert nachgebildeter maurischer Palast im Stil der Bauwerke von Granada und Sevilla gestellt – mit wunderschönen Keramik-Ziegeln und detaillierter, reicher Steinornamentik, der Realität absolut täuschend nachgebildet. Jede Drehung der Bühne offenbarte einen neuen, atemberaubend schönen Aspekt dieses Palastes. Wie dieses fantastische Bauwerk erstellt werden konnte, erscheint rätselhaft. Jedenfalls ein wohl weltweit einmaliges Bühnenbild für diese Oper.
Dr. Charles E. Ritterband, 9. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
klassik-begeistert-Reporter Dr. Charles Ritterband, 69, im Orgelsaal zu Glyndebourne. Ritterband war über 30 Jahre Korrespondent der renommierten Neuen Zürcher Zeitung NZZ, auch in Buenos Aires, Jerusalem, London und Wien.
Musikalische Leitung: Giancarlo Andretta
Regie: Michael Grandage
Bühne: Christopher Oram
Regie der Wiederaufnahme: Ian Rutherford
Figaro: Brandon Cedel
Susanna: Hera Hyesang Park
Graf Almaviva: Germán Olvera
Gräfin: Amanda Woodbury
Cherubino: Emily Pogorelc
Don Basilio: François Piolino
Barbarina: Charlotte Bowden
Marcellina: Rosie Aldridge
Antonio: Nicholas Folwell
Richard Wagner, Siegfried Longborough Festival Opera, 7. Juni 2022
Le Nozze di Figaro, Wolfgang Amadeus Mozart Staatsoper Hamburg, 6. Juni 2022
Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, Teatro alla Scala, 12. April 2022