Martin Grubinger lässt es in Lübeck krachen

Schleswig-Holstein Musik Festival, Martin Grubinger  Musik-und Kongresshalle Lübeck, 7. Juli 2022

Foto: Martin Grubinger MUK Lübeck, © Dr. Regina Ströbl

Musik-und Kongresshalle Lübeck, 7. Juli 2022

Schleswig-Holstein Musik Festival
Martin Grubinger

Dmitri Schostakowitsch: Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70

Fazıl Say: Konzert für Schlagzeug und Orchester op. 77

John Williams: Special Edition Suite

NDR Radiophilharmonie
Gabriel Venzago, Dirigent

Martin Grubinger, Percussion
The Percussive Planet Ensemble

von Dr. Andreas Ströbl (Text) und Dr. Regina Ströbl (Fotos)

„Eine echte Percussion-Party“ hatte der Salzburger Weltklasse-Schlagwerker Martin Grubinger im Vorfeld des SHMF-Konzerts am 7. Juli in der Lübecker Musik- und Kongresshalle angekündigt. Dies Versprechen hat er furios gehalten und ein krachendes Feuerwerk vor vollem Saal abbrennen lassen.

Zuvor gab es allerdings, in Abänderung der geplanten Reihenfolge, Schostakowitschs 9. Symphonie, die eigentlich für den Abschluss des Abends vorgesehen war. So feurig der dominierende Teil des Konzerts das sehr gemischte Publikum begeisterte, so unpassend schien doch die Zusammenstellung von fetzigen Rhythmen, unglaublicher Virtuosität und einer packenden Filmmusik-Suite mit einem der vielschichtigsten, sensibelsten und psychologisch anspruchsvollsten Werke aus der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Schostakowitschs Auftragswerk zur Feier des Sieges über Nazi-Deutschland ist bekanntlich die Parodie einer Triumphmusik, deren tiefere ironische Ebenen auch Stalin nicht verstand, sonst hätte der Komponist seine letzte Lebenszeit im Gulag verbringen müssen. Was der Diktator hörte, reichte allerdings für den Vorwurf des „Formalismus“ und ein jahrelanges Aufführungsverbot aus; allzu deutlich waren die Klänge dem Zirkus oder Jahrmarkt entlehnt, denn zu feiern gab es 1945 zumindest für Feingeister wie Schostakowitsch nichts. Trauer und Totenklage verbergen sich kaum verhohlen in dieser Symphonie, die gerade im ersten Satz mit Naivität und Leichtigkeit spielt, diese aber immer wieder bricht und die Siegermienen als hässliche Fratzen erscheinen lässt.

Das Eingeständnis vergeblicher Anstrengungen und enttäuschter Erwartungen sprechen aus dem zweiten Satz mit seinem mühsamen Wogen und Rollen, während der dritte in seiner verzweifelten Gehetztheit Einblicke in die Seele eines Komponisten erlaubt, der versuchen muss, von der Angst nicht völlig überrannt zu werden. Und so können die beauftragten Fanfaren des vierten Satzes nur zynisch wirken, denn die melancholischen Partien zeugen wiederum von der Gewissheit des Todes, der zur Zeit der Komposition millionenhaft gegenwärtig war. Gesteigert wird diese Karikatur einer Apotheose im letzten Satz mit verzerrten Marschklängen; die Kapelle scheint eher aus uniformierten Untoten als aus siegesfrohen Lebenden rekrutiert.

Die NDR Radiophilharmonie unter dem mit größtem Körpereinsatz dirigierenden Gabriel Venzago spielte dieses in jeder Hinsicht schwere Stück zwar mit hörbarer Begeisterung, aber die Düsternis und seelische Zerrüttung, die diese Symphonie prägen, klang kaum heraus. Das lag auch daran, dass nach jedem Satz geklatscht wurde. Man mag dem SHMF-Intendanten Christian Kuhnt rechtgeben, der in seiner sympathischen Art neulich meinte, man solle Neulinge in der klassischen Musik freundlich begrüßen, aber hier wäre ein Wink des Dirigenten didaktisch hilfreich und dem Werk unbedingt angemessen gewesen.

Foto: MUK Lübeck, (c) Dr. Regina Ströbl

Man konnte sogar den Eindruck gewinnen, als ermunterte er das Publikum zum Applaus; zumindest goutierte er ihn sichtlich. Es hätte Schostakowitsch 9. Symphonie besser getan, sie an diesem Abend nicht aufzuführen.

Seien wir ehrlich – die Menschen waren ohnehin wegen Martin Grubinger in die Lübecker „MuK“ gekommen und feierten ihren Star dann in Fazıl Says mitreißendem Konzert für Schlagzeug und Orchester. Eine überbordende Klangfarbigkeit und eine völlig neuartige Bewertung des Schlagwerks mit einer Vielzahl an ungewöhnlichen Instrumenten machen dieses eigens für Grubinger geschriebene Konzert zu einem Fest für Freunde faszinierender Rhythmen und überraschender musikalischer Einfälle.

Foto: MUK Lübeck, (c) Dr. Regina Ströbl

Solist, Dirigent und Orchester ließen schon durch ihre sichtbare Spielfreude die Funken pausenlos überspringen. Venzago hüpfte, wippte, bog sich, hob mit den Händen die Töne wie aus tiefen Brunnen heraus und stach mit dem Finger in das riesige Orchester, um einzelne Instrumente zu raschen, aufeinanderfolgenden Akzenten zu jagen. Musikerinnen und Musiker harmonisierten phantastisch mit Leitung und vor allem dem hin und her hetzenden Grubinger, der sich beeilte, um von Marimba zu Vibraphon, von den Röhrenglocken zu den Rototoms zu springen. Der Mann ist eine echte Naturgewalt und es ist kaum zu glauben, mit welcher Präzision, Kraft, gebotener Zartheit und offenbar grenzenloser Energie er auch die rasantesten Läufe meistert.

Das Konzert bietet einerseits grandiose Möglichkeiten für eine virtuose Extremleistung, überzeugt aber auch musikalisch durch eine Architektur aus Rhythmik und Melodien, die teils aus dem Jazz und der traditionellen türkischen Musik entlehnt sind, ohne plakativ orientalisierend zu wirken. Das hat der Regimekritiker Say bewusst durch ironische Brechungen vermieden und so konnte man auch die manchmal aggressiven Härten zwischen all der tänzerischen Lebensfreude heraushören.

John Williams „Special Edition Suite” ist eine Art Filmmusik-Megahit-Rhapsodie, die das Publikum durch solche Klassiker wie „Star Wars“, „Der Soldat James Ryan“ „Harry Potter“, „Schindlers Liste“ und abschließend der „Olympic Fanfare and Theme“ führt und gleichsam markante Filmsequenzen musikalisch abspielt.

Ergänzend kam nun das „Percussive Planet Ensemble“ hinzu, also unterschiedliche Schlagwerker und zwei E-Gitarren. Nach anfänglichen Problemen, in den gemeinsamen Rhythmus zu kommen, gelang dann das Zusammenspiel, auch weil Grubinger stets die Nerven behielt und mit bewundernswerter, sichtlich absoluter Konzentration auf jeden einzelnen Ton die eigentliche Leitung innehatte. Mühelos glitten atemberaubende Soli mit wahren Trommelgewittern in den Tutti-Klang über, wodurch bei aller Verschiedenheit der Musiken der Eindruck von Geschlossenheit gelang.

Mit satten Pauken versetzte Grubinger diesem Potpourri den Finalschlag und erntete sofort brandenden Beifall. Stehende Ovationen forderten eine Zugabe und so gab es den letzten Teil des Stückes nochmal.

Ein Jammer, dass dieser phantastische Künstler sich nächstes Jahr allein seinem Geschichtsstudium widmen will. Wollen wir hoffen, dass er sich überreden lässt, wenigstens in den Semesterferien eine treue und begeisterte Anhängerschaft zum Jubeln zu bringen.

Dr. Andreas Ströbl, 9. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Wiener Symphoniker, Martin Grubinger, Gustavo Gimeno, Wiener Konzerthaus

Martin Grubinger, WDR Sinfonieorchester Köln, Jukka-Pekka Saraste, Kalevi Aho, Dmitrij Schostakowitsch, Kölner Philharmonie

Klassik am Odeonsplatz, Manfred Honeck, Martin Grubinger, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, München

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